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Prosaperlen vom Wörthersee

Die fünf Preistexte bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2005

Thomas LangThomas Lang, Ingeborg-Bachmann-Preisträger 2005
Der Bachmann-Wettbewerb ist vorüber. Die fünf Preistexte bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2005

 

Man muss ein Buch auch mit den Ohren lesen, meinte das Ex-Jury-Mitglied Iso Camartin in seiner Rede zur Literatur, die die diesjährigen "Tage der deutschsprachigen Literatur" einleitete. Und eine geballte Ladung Literatur auf die Ohren gab es auch dieses Jahr wieder bei den Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Rede Camartins war ein Plädoyer für den persönlichen Stil, für Stil als das Einzigartige, das Unverwechselbare im Gegensatz zum Lifestyle. Dieser Vortrag wurde zur Leitschnur für viele Diskussionen. Die neunköpfige Jury bemühte sich, solche Texte mit einzigartiger Handschrift aufzuspüren. Und dennoch war die Jury-Vorsitzende Iris Radisch wieder einmal nicht zufrieden mit der Auswahl an Texten, hätte sich Texte gewünscht, die mehr riskiert hätten, die sich näher an die Grenzen der Sprache herangewagt hätten. Wie im letzten Jahr hat die Jury aber wieder etliche Prosaperlen unter den Kieseln am Strand des Wörthersees gefunden.

Thomas Lang: Zitternd am Seil

Den Ingeborg-Bachmann-Preis bekam der Münchner Thomas Lang für die Kurzgeschichte "Am Seil". Gewonnen hat damit ein Text, der knallharten Realismus bietet, der mehr auf Spannung als auf bildhafte Sprache baut. Es geht um eine Vater-Sohn-Beziehung: Der Vater ist Lehrer und hat seinem Sohn immer Vorschriften gemacht, ihn runtergemacht. Der Sohn ist darüber wohl weggelaufen und kommt nun, nach Jahren, wieder zum Vater zurück – das Gleichnis vom verlorenen Sohn klingt an. Der unter der Parkinsonschen Krankheit leidende Vater bittet ihn, ihm auf den Heuboden einer Scheune hinaufzuhelfen. Dabei kommt es zu lebensbedrohlichen Situationen für beide. Der Vater hat die Möglichkeit, den Sohn umzubringen und der Sohn hat die Chance, seinen Vater in den Tod stürzen zu lassen. Am Schluss tut es keiner von beiden.

Julia Schoch: Verbindungsfäden zur Heimat

Zweite wurde Julia Schoch mit einem Text, der viel mehr auf Sprache setzt als Thomas Lang, und in dem es um Heimat geht, um Verbindungen zur Heimat, um Heimat in Beziehungen und die Bedeutung von Heimat. Die Protagonistin ist von einer Organisation eingeladen worden, um ihre Biographien preußischer Könige vorzustellen. Sie ist nun in Brasilien, genauer in einer Stadt nahe der Mündung des Amazonas. Sie lernt einen Dolmetscher kennen und einen Redakteur, mit denen sie schläft, und eine Installationskünstlerin, die Wasser durch grüne Schläuche blubbern lässt. Bei all dem denkt die Protagonistin viel an ihre preußische Heimat, an die Seen von Bukow, und an den Mann, den sie dort zurückließ. Sie hat mit ihm ausgemacht, ihre Hand in den großen Fluss zu tauchen, damit sie über das Wasser verbunden sind. Sie hat Schwierigkeiten, zum Fluss zu kommen, aber am Schluss gelangt sie hin, lässt sich auf einem Floß hinaustreiben und kappt das Seil, an dem es sicherheitshalber vertäut ist.

Anne Weber: Die Welt als Großraumbüro

Anne Weber bekam den dritten Preis für einen Text, der von einem Großraumbüro erzählt, in dem die Ich-Erzählerin offenbar als Redakteurin der Firmenzeitung arbeitet. Aber vom Ich ist nicht viel die Rede, der Autorin geht es offenbar hauptsächlich um Kritik am kalten Kapitalismus. Das Großraumbüro verwendet Weber hier als Symbol für die globalisierte Welt. Der Romanauszug ist deshalb mit Recht als hauptsächlich essayistisch beurteilt worden, was natürlich mehr eine Einordnung als Kritik darstellt. Wahr ist auf jeden Fall, dass er sprachlich gut ist. Ein Beispiel: Aus vielen kleinen Geräuschen (...) webt sich ein Tag. Oder eine Formulierung, die Heinrich Detering zurecht hervorhob: Rechterhand wird in einen Apfel gebissen, wodurch (...) ein saftiges kleines Geräusch entsteht. Oder herrlich auch der Schokoladenosterhase: Am Rücken entlang (...) führt eine feine Naht: wie der Mensch scheint auch der Osterhase ursprünglich aus zwei Hälften bestanden zu haben, nur dass der Mensch dazu verurteilt ist, ein Leben lang seine fehlende Hälfte zu suchen. Oder über die Weltrevolution: Revolution bedeutet Drehung. Bisher ist immer nur eine Drehung um 360 Grad, nie eine 180-Grad-Wende gelungen.

Nathalie Balkow: Auf der Suche nach Fixpunkten

Natalie Balkow bekam den vierten Preis für "Oben, wo nichts mehr ist", eine Geschichte über ein Verhältnis einer Frau zu ihrem frisch eingezogenen Nachbarn. Er hat als Geologe im Himalaja gearbeitet, "oben, wo nichts mehr ist". Der Mann heißt nicht ohne Grund Hoffmann. Er ist eine Hoffnung in ihrer kalten Welt, die Hoffnung auf einen Fixpunkt, etwas Festes. So fest wie die Berge, aus denen der Mann kommt. Als Isabell Hoffmann kennen lernt, ist das Wetter beständig, jeden Tag blendend schön. Aber am Ende der Geschichte ziehen Wolken auf, es sieht nach Regen aus, "veränderlich" nennen das die Meteorologen. Auch hier sind ein paar kluge Beobachtungen zu finden, wenngleich die Sprache Balkows nicht an die von Weber heranreicht.

Saša Stanišic: Krieg und Krieg spielen

Der Publikumspreis ging an Saša Stanišic für eine Geschichte aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg, gesehen aus der Perspektive von Kindern, die Krieg spielen. Zurecht, will ich meinen.

Und mehr...

Die Jury beeindruckte außerdem Nikolai Vogel, auch wenn er ohne Preis nach Hause fahren musste. Sein Romanauszug mit dem Titel "Plug-In" ließ einen Wasserschaden zum Symbol der Überflussgesellschaft werden. Mir gefiel außerdem der Text von Christoph Simon, der von einem niedergeschlagenen Ex-Liebhaber erzählte, der sich mit seinem Dachs auf den Weg nach Zürich-Oerlikon oder die Mongolei machte. Und – ebenfalls ein lustiger Text – die Geschichte von Kristof Magnusson sowie die Karpfengeschichte von Barbara Bongartz.

Eigentlich ist es üblich zu knarzen: Die Texte in Klagenfurt werden auch von Jahr zu Jahr schlechter. Als ob sich als anspruchslos outen würde, wem die Texte der Neulinge gefallen würden. Aber es ist nicht so, glaube ich. Alles in allem waren wirklich doch einige Perlen unter den Kieseln.

Stefan Leichsenring

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Letzte Änderung: Juni 2005

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