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Ein paar Seiten MoE

Anmerkungen zur Prosa Robert Musils

Robert Musils Mann ohne Eigenschaften zu lesen, ist nicht jedermanns Sache. Das liegt unter anderem am Umfang von schlappen 2.000 Seiten. Einfach vorne anfzufangen ist auch nicht empfehlenswert. MoE-Einsteigern schlage ich ein abseitiges Kapitel zur Lektüre vor.

Der Mann ohne Eigenschaften – oder MoE, wie ihn Musil manchmal abkürzte – ist ein Buch, das man nicht leichtfertig in die Hand nimmt. Über 2.000 Seiten – da überlegt man sich, ob man überhaupt anfangen sollte. Ich habe als Musil-Anfänger zuerst mal vorne angefangen, gab aber schon nach einigen Seiten ermüdet auf. Vor kurzem machte ich einen zweiten Anlauf. Dieses Mal fing ich mit dem zweiten Band an und las ein Kapitel, das ich empfehlen möchte. Man kann sich damit nicht nur königlich amüsieren, sondern auch einige Feinheiten der vielgerühmten Prosa Musils entnehmen.

Professor August Lindner
Der MoE ist in zwei Bänden erschienen. Der erste enthält die zu Lebzeiten erschienenen Teile &ndas; etwa 1.000 Seiten –, der zweite Texte aus dem Nachlass. Da gibt es zunächst zwanzig Kapitel, die den zweiten Teil fortsetzen sollten. Kapitel 39 ist mit "Nach der Begegnung" überschrieben. Darin geht Professor August Lindner, eine Nebenfigur im MoE, einen Pfad hinab. Er kommt von einem Grab, ist jedoch in guter Stimmung: Er ist der hübschen Agathe begegnet. Er hat sie am Grab eines ihr offenbar nahe stehenden Dichters getroffen und getröstet. Nun hängt er seinen Gedanken nach, die sich vor allem mit Moral beschäftigen.

Gleitende Perspektive

Musil beginnt mit einem Blick von außen auf den Gang des Professors, schlüpft aber recht schnell in die Figur:

Der Mann, der am Grab des Dichters in Agathes Leben getreten war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.

Hätte sie ihm beim Abschied nachgeblickt, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang dieses Mannes aufgefallen [...]

Hätte Agathe ihm nachgeblickt: Das ist von außen gesehen. Dann kommen Gedankenzitate in Anführungszeichen:

"Wie wenig Menschen", sprach er zu sich selbst, " haben eine wahrhaft mitfühlende Seele!"[...]

Dann ein Stückchen indirekte Rede:

Sodann fiel ihm aber ein, wie wenig Menschen es gebe, die ihrem Nebenmenschen auch nur aufmerksam zuzuhören vermöchten [...]

Und im Folgenden geht Musil immer mehr zu zur erlebten Rede über und bleibt auch fast durchgängig dabei:

Nun, er hatte sich dieses Fehlers nicht schuldig gemacht!
Ganz drinnen?

Die Sicht von außen, das Gedankenzitat, die indirekte Rede, die erlebte Rede: Hier schlüpft Musil ganz allmählich in Lindner hinein. Aber ist er ganz drinnen? Man kann die erlebte Rede rein personal verwenden, also so, dass sie eindeutig der Perspektivfigur zugeordnet ist (vgl. O. Kruse, Kunst und Technik des Erzählens, Zweitausendeins, S. 175). Wenn Lindner zum Beispiel sagen würde: "Er würde diesen Fehler nicht begehen." wäre klar, dass Lindner das denkt. Aber Musil lässt in der Schwebe, ob diese Reflexionen vom Protagonisten oder vom Erzähler stammen:

Nach seinen Grundsätzen war, den Schwachen zu schützen, die notwendige und besondere Gesundheitslehre des Starken [...]; und auch die Bildung bedurfte des Liebeswerks gegen die ihr einwohnenden Gefahren.

Besonders bei der Ergänzung nach dem Strichpunkt wird nicht mehr eindeutig der Bezug zum Protagonisten hergestellt. Musil schwebt zwischen personaler und auktorialer Erzählweise. Und gerade das ermöglicht die Ironie, für die Musil bekannt ist. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie es mir beim ersten Lesen ergangen ist.

Mein Lesebericht

Zuerst fand ich die Sprache ziemlich pomadig: "der Mann, der [...]in Agathes Leben getreten war" statt "den Agathe kennengelernt hatte". Das klingt nach salbungsvoller Begräbnisrede. Wer an Kahlschlagstil und moderne Kurzprosa gewöhnt ist, empfindet diese umständliche, ziemlich altmodische Sprache als ironisch. Aber ich dachte an die Entstehungszeit, Thomas Mann einfiel mir ein, und so begann ich diese redselige Art bald als 30er-Jahre-Deutsch zu akzeptieren.

Dann wird da ein Professor vorgestellt, der recht unsicher zu sein scheint ("ängstlicher Gang"). Ich nahm die Figur ernst, folge seinen Gedanken, die nicht völlig falsch zu sein scheinen. Manche Glaubenssätze Lindners stehen da wie unumstößliche Wahrheiten: im Präsens, im Indikativ, ohne Kennzeichnung durch Anführungszeichen, indirekte Rede oder ähnliches.

Aber allmählich kommt die Figur ins Rutschen:

Lindners Brillen blickten wie zwei Schilde eines doppelgewaltigen Kämpfers in die Runde. In Agathes Gegenwart war er befangen gewesen; wenn sie ihn dagegen jetzt gesehen hätte, wäre er ihr wie ein Offizier vorgekommen, aber wie ein Offizier einer keineswegs leichtsinnigen Truppe. Denn eine wahrhaft männliche Seele ist hilfsbereit, weil sie männlich ist.

Was am Anfang des Kapitels schon angelegt war – die Doppeldeutigkeit Lindners ("stolzer und doch ängstlicher Gang") – wird hier immer deutlicher. Man beginnt sich zu fragen, wie ernst man diesen "doppelgewaltigen Kämpfer" nehmen soll.

Hüter und Bildner der Sitte

Es folgen Ausdrücke, bei denen ich wieder nicht wusste, ob ich sie Musils Zeit oder seiner Ironie zuordnen sollte: Hüter und Bildner der Sitte, nach Zucht und Grenzen zu verlangen, fromme Seele. Dazu kommen Einsprengsel, die mich daran erinnern, dass hier ein Erzähler am Werk ist: "Anscheinend war es eine alte Meinungsverschiedenheit [...], was er da einerseits an dem liberalen Begriff der Bildung [...] ausließ. Oder die Erwähnung Nietzsches, "der dem bürgerlichen Geiste jener Zeit noch ein Stein des Anstoßes" war.

Ein ordinäres Liebespaar

Und dann folgt mittenhinein in Lindners Überlegungen eine kleine Szene:

Er blickte einem jungen Liebespaar, das sehr verschlungen, herauf- und ihm entgegenkam, siegesgewiss und mit freundlichem Tadel, der zur Tugend ermuntern sollte, in die Augen. Es war aber ein recht ordinäres Liebespaar, und der junge Strolch, der der seinen männlichen Teil bildete, kniff die Augenlider zusammen, als er diesen Blick erwiderte, streckte unvermittelt die Zunge heraus und sahte:"Bäh!" Lindner, der auf diese Verhöhnung und gemeine Drohung nicht vorbereitet war, erschrak: aber er tat, als bemerke er sie nicht. Er liebte die Tatkraft, und sein Blick suchte nach einem Schutzmann, der in der Nähe sein sollte, die öffentliche Esicherheit der Ehre zu gewährleisten; aber sein Fuß stieß dabei an einen Stein, die hastige Bewegung des Stolperns scheuchte einen Schwarm Sperlinge auf, der sich an Gottes Tisch über einem Haufen Pferdemist gütlich getan hatte, das Aufschwirren der Spatzen warnte Lindner und ließ ihn im letzten Augenblick, ehe er schmählich stürzte, mit einer tänzerisch bemäntelten Bewegung über das Doppelhindernis hinweghüpfen. Er blickte nicht zurück, und nach einer Weile war er sehr zufrieden mit sich. "Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter muss man sein!", dachte er mit einer alten Definition aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Es war diese herrliche Szene, die mich für Musil einnahm. Wenn der junge Mann Lindner die Zunge herausstreckt, ist auf einmal die ganze Pomadigkeit weg, Musil erzählt direkt, auf einmal zerreißt der Schleier der vielen Reflektionen, und Lindner wird gezeigt, wie er ist: als lächerliche Figur, als ängstlicher, unsicherer Mensch, den man ziemlich leicht aus der (auch seelischen) Balance bringen kann. Hier habe ich über mich selbst gelacht, darüber, wie ernst ich diesen Mann am Anfang nahm, den doppelgewaltigen Kämpfer für die Sitte, der sich selbst so männlich vorkommt.

Mir hat diese Episode deutlich gemacht, wie man eine Figur kippen lassen kann. Wie man als auktorialer Erzähler einen Protagonisten langsam untergraben kann, so dass er schließlich vom Sockel stürzt. Und sie hat mir gezeigt, dass Musils MoE nicht nur intelligente, aber etwas trockene Reflexion ist, wie es nach den ersten Seiten des ersten Bandes vielleicht scheinen mag.

Robert Musil (1880-1942)

Musil wurde 1880 in Klagenfurt geboren und besuchte zunächst eine Mulitär-Oberschule. Eine anschließend begonnene Offiziersausbildung bricht er jedoch ab, wird Ingenieur. Die Erlebnisse auf der Militärschule wurden die Basis von Musils erstem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, der 1906 erscheint. 1908 promoviert Musil über die Lehren von Ernst Mach. Statt die wissenschaftliche Karriere weiterzuverfolgen, entscheidet er sich für die Schriftstellerei. Im ersten Weltkrieg erhält Musil als Offiztier verschiedene Auszeichnungen. 1921 beginnt Musil mit dem MoE; der erste Band und der erste Teil des zweiten Bandes erscheinen 1931 und 1932 - mit großem Erfolg, doch Musils finanzielle Lage bleibt angespannt. Musil flieht vor den Nazis zuerst nach Österreich, dann in die Schweiz. Dort arbeitet er weiter am MoE – unter finanziellen Schwierigkeiten und in zunehmender Vereinsamung. 1942 stribt er, ohne den MoE zu beenden. Quelle: http://www.musilmuseum.at

Bibliographisches

  • Die Episode "39 - Nach der Begegnung" stammt aus dem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Teil von "Der Mann ohne Eigenschaften"
  • Gelesen in: R.M., "Der Mann ohne Eigenschaften", Hrsg. Adolf Frisé, Rowohlt, Hamburg 1978 (gebundene Ausgabe in zwei Bänden), Band 2 (Aus dem Nachlass), Seite 1045-1049

Letzte Änderung: März 2005

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