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K. Neville: "Das Montglane-Schachspiel"

Rezension eines historischen Romans

In ihrem Roman breitet Katherine Neville eine zeitübergreifende Verschwörungsgeschichte aus. Ob sich das Lesen lohnt, was daran trivial und was gut ist. 
München, im April 2000 - Die Ratte ist schon lang kein verächtliches Tier mehr. Der Nager gilt nicht länger als gefährlicher Krankheitsüberträger, sondern als intelligenter Überlebenskünstler. Als Vielfraß gilt die Ratte indes noch immer. Eine Leseratte ist demnach ein Mensch, der unglaubliche Mengen an Büchern verschlingt. Und für solche ist das Montglane-Schachspiel (französisch auszusprechen) wie gemacht.

Worum geht es? Das Schachspiel des Klosters von Montglane birgt ein Geheimnis, dessen Kenntnis ungeahnte Macht verleihen soll. Mireille, eine Novizin am Kloster, macht sich zur Zeit der Französischen Revolution auf die Suche nach verloren gegangenen Schachfiguren. Im 20.Jahrhundert tut die Computerspezialistin Katherine dasselbe. Sie geraten in die Wirren einer Jahrhunderte umspannenden Verschwörung, eines Kampfes von Gut und Böse. Sie werden selbst zu Figuren in diesem gewaltigen Spiel.

Potpourri historischer Prominenz
Die Handlung, soviel lässt sich schon aus diesem kurzen Abriss erkennen, ist bunt und vielseitig. Schauplätze und Zeite wechseln sich ab, lassen keine Langeweile aufkommen. Ihr Hauptaugenmerk richtet die amerikanische Autorin dabei auf die Brennpunkte der Historie, auf die jeweils bekanntesten Protagonisten der Weltgeschichte. Die Handlung wechselt vom Hof Karls des Großen über die Erlebnisse des jungen Napoleon und Katherina der Großen bis hin zur Ölkrise und Ghaddafi. Ein wenig riecht es nach Effekthascherei mit der Prominenz aus der Geschichte. Karl der Große, Richelieu, Talleyrand, Napoleon, Katharina die Große, der Maler David... 

Ein weiblicher Umberto Eco?
Bis hierher finden sich Parallelen zu Umberto Ecos Romanen: Auch hier wird Bildung vermittelt. Der durchschnittliche Leser weiß wohl wenig über die Interna der Machtkämpfe im späten Mittelalter, jedenfalls weniger als der Mediävist Eco. Der Name der Rose ist zwar kein Geschichtsbuch, aber ein sehr fundiert geschriebener Roman - das nimmt man dem Autor Umberto Eco wohl ab. Und bei Neville? Manchmal wirkt die geballte Verwendung von Prominenten als Personal wie Nachhilfeunterricht in Geschichte - ganz als wollte die Autorin dafür sorgen, dass ihre Leser nebenbei noch etwas für ihre Bildung tun, als wollte sie dem Leser zu einem minimalen Allgemeinwissen verhelfen, ihm bei Kreuzworträtselfragen zu helfen. Man kommt sich als Absolvent einer einigermaßen allgemeinbildenden Schule doch ein wenig unterbewertet vor. Nicht nett.

Manche Szenen sind aber dann doch wieder sehr eindringlich beschrieben, voll Leben. So etwa die Situation im revolutionären Paris, die Massenhysterie in den engen Gassen. Und die Welt der Computerspezialistin Katherine, Alter Ego der Autorin, beherrscht Neville als Insiderin sowieso.

Aber noch einmal zu den Parallelen mit Eco. Die Verschwörung rund um das ominöse Schachspiel ertreckt sich wie bei der Affaire mit den Tempelrittern im "Fouceaultschen Pendel" von Eco über viele Jahrhunderte. Bei Eco wie bei Neville steht in ihrem Mittelpunkt ein sagenumwobener Gegenstand, hier der Heilige Gral, dort das mysteriöse Schachspiel. Auch ein Vergleich mit Ecos "Namen der Rose" lässt sich anstellen. In Ecos Roman scheinen die Prophezeiungen der Apokalypse über das Ende der Welt hinter den Geschehnissen in einem mittelalterlichen Kloster zu stehen. Das Muster, dem die Geschehnisse folgen, entpuppt sich bei Eco jedoch als bloßer Schein, als ein Mittel, um die Mönche täuschen, um Verbrechen zu verschleiern. Das Schachspiel in Nevilles Buch erscheint dagegen als Realität. Die Personen der Handlung folgen wirklich den Gesetzen eines Schachspiels. Die Figuren des alten Schachspiels besitzen wirklich übernatürliche Kräfte. Eine gehörige Portion Mystik ist hier im Spiel. Neville verbindet hier Elemente des Thrillers mit solchen der Fantasy-Literatur. Ähnliches hat Eco im "Namen der Rose" getan - sein Buch ist zugleich historischer Roman, Kriminalroman und philosophischer Bildungsroman. Aber was Eco geglückt ist, das misslingt bei Neville. Stehen zu Beginn die phantastischen Elemente im Hintergrund, so dominieren sie umso stärker das Geschehen, je mehr über das Schachspiel herauskommt - bis hin zu der grotesken Flucht Katherines, die auf dem Meersesgrund entlanglaufend ihren Verfolgern entkommt.

Realismus und Fantasy
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Gegen Fantasy-Romane ist nichts einzuwenden. Marion Zimmer-Bradleys "Nebel von Avalon" etwa schafft es, dem Leser die Illusion einer Wirklichkeit zu vermitteln, in der nicht die Naturgesetze gelten, sondern die Gesetze des Märchens und der Sage. Zimmer-Bradley bleibt ihrem Ansatz von Anfang bis Ende treu, der Leser folgt ihr willig. 
Anders Neville: Durch den Realismus der ersten Kapitel wähnt sich der Leser im Genre des Thrillers. Er vertraut sich der Autorin an, überlässt sich ihrer Phantasie. Aber er wird enttäuscht. Neville verlässt den Boden des realistischen Thrillers und wechselt ohne Vorwarnung ins Areal der Phantastik. Das Koordinatensystem, das die Autorin am Anfang geschaffen hat, wird verlassen. Der Leser fühlt sich in die Irre geführt. So z.B. die Passage gegen Ende, in der die Heldin auf dem Meeresboden lustwandelt: "Das Gewicht der Figuren in der Tasche an meiner Schulter ließ mich auf den Grund sinken... In der kleinen Bucht war das Meer etwa drei Meter tief, und ich konnte über den Meeresboden laufen... (S. 513) Neville verspielt spätestens hier das Vertrauen,das sie sich durch realistische, lebensecht wirkende Szenen mühsam erworben hat. Die Illusion, sich inmitten wirklicher Vorgänge zu befinden, zerbricht, und das Geschehen wirkt unwahrscheinlich.

Ein Rezept aus der Lindenstraße
Nach den ersten paar Dutzend Seiten ist dem Leser klar, wie das Buch aufgebaut ist. Es gibt zwei Handlungsstränge, zwischen denen hin- und hergesprungen wird. Am Ende einer Episode kommt immer ein kleiner "Knaller". Diese Struktur zieht sich durch das ganze Buch. Es ist wie bei Reißern eben üblich. Forsyth schreibt so, die "Lindenstraße" ist so aufgebaut und vieles andere auch. Man hat sich in eine Umgebung, einen Handlungsstrang eingelesen, die Handlung strebt dem Höhepunkt zu, erreicht ihn, ein Fragezeichen bleibt im Kopf des Lesers stehen, eine geheimnisvolle Gestalt beobachtet heimlich das Geschehen oder der Held kommt endlich am Ort des Geschehens an - und das Kapitel ist zu Ende. Man liest weiter, bis der Strang einige Dutzend Seiten später wieder aufgenommen wird. Es ist ein Rezept, das für Unterhaltung sorgt, für Abwechslung und Spannung. Aber ein solch einfaches Rezept wird leicht durchschaut, und dann sorgt es für Ärger beim Leser. Die Struktur erscheint abgedroschen, man fühlt sich als Leser nicht für voll genommen.

Die ersten paar Dutzend Seiten entscheiden also, ob man weiterliest. Akzeptiert man die Struktur, ob nun glücklich über den vertrauten Ablauf oder eher zähneknirschend, dann lässt man sich etwa nach dem ersten Drittel dann doch gerne mitreißen von der spannenden Erzählung.

Schlamperei
Noch ein paar Kritikpunkte auf die der penible Leser stößt (oder auch der Autor, der selber manchmal schlampt ;-): Manchmal hat Neville nicht richtig recherchiert. Zum Beispiel bringt sie den Julianischen und den Gregorianischen Kalender durcheinander. "Nach dem europäischen Julianischen Kalender war es bereits der 4. November...Aber hier in Rußland schrieb man nach dem Gregorianischen Kalender erst den 23. Oktober (Goldmann-Ausgabe S. 124). Da hätte Neville sich durch Nachblättern im Konversationslexikon einen Fehler erparen können. In Europa ist der Kalender von Julius Cäsar im 16. Jahrhundert durch Papst Gregor durch eine neue Variante ersetzt worden, während in Russland der alte Julianische Kalender beibehalten wurde. Also gerade umgekehrt wie Neville schreibt. Westeuropa - gregorianisch, Russland - julianisch.
Weiter hinten in dem Buch entpuppt sich "ein riesiger quadratischer Berg" (S. 386) dann doch als ziemlich mickrig: "Man brauchte eine halbe Stunde bis zum Gipfel..." (S. 389) - und zwar zu Fuß. Wie jeder Bergwanderer weiß, schafft man in einer halben Stunde nicht wesentlich mehr als höchstens (!) 600 Höhenmeter. Das ist allenfalls für einen extrem bodenständigen Holländer ein riesiger Berg. Aber vielleicht ist Neville ja sportlicher als gedacht?

Resümee
Den Vergleich mit Umberto Ecos "Name der Rose", den ein Kritiker aus dem Boston Herald bemüht (siehe Umschlag der Goldmann-Ausgabe) ist weit hergeholt. Bei Eco ist alles so viel vielschichtiger. Bei Neville gibt es kein Pendant zu der philosophischen Ebene, die Ecos Buch aufweisen kann. Ecos Buch kann man als historischen Roman lesen, als Krimi, als philosophischen (im engeren Sinn semiotischen) Roman. Und spannend ist es auch noch. Da findet jeder etwas. Nevilles Buch dagegen ist leider nur ein Reißer... 

Na und?", mag man fragen. Auch der Macher hat das Buch ja offenbar bis zum Ende gelesen. Warum denn, wenn das Buch so mittelmäßig ist? Nun ja. Der Macher hatte kurz zuvor die Rezensionsgruppe www.leseratte.de entdeckt, und da hat man sich nach Abstimmung auf dieses Buch geeinigt. Deshalb hat er das Buch gekauft. Und einmal gekauft, war er zu geizig, das Buch angelesen liegen zu lassen. Für ihn hat es sich doch irgendwie gelohnt. Wenn man klassische Musik nur kennt, wie sie von der Platte kommt, gespielt von Spitzenorchestern und Spitzeninterpreten, dann kennt man nur die halbe Wahrheit. Eine Probe in einem Amateurorchester kann manchmal sehr interessant sein, von Zeit zu Zeit... 

(April 2000)

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