Ingo Schulze: Simple Storys
Ein Roman aus Kurzgeschichten
Die zusammengehängten Storys von Ingo Schulze sind von Raymond Carvers Geschichten (verfilmt als "Short Cuts") beeinflusst.München, im August 2000 - Er gehört zu den bekanntesten deutschen Nachwuchsautoren, gerade was Kurzgeschichten betrifft: Ingo Schulze. Mit zwei Kurzgeschichtensammlungen wurde der 38-jährige Dresdner bekannt: 33 Augenblicke des Glücks rekapituliert Schulzes längeren Aufenthalt in St. Petersburg und verwendet für jede Story einen anderen Stil. Simple Storys thematisiert den gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland zur Zeit der Wende.
Die Simplen Storys - Schulze verwendet die deutsche Schreibweise von "Storys" (statt "Stories") - werden vom Verlag als Roman bezeichnet. In Wirklichkeit handelt es sich um zusammenhängende Kurzgeschichten, die zumindest zum Teil auch für sich allein stehen könnten. Diese Art von Zusammenhang kennt man aus dem Film Short Cuts, der auf den Geschichten von Raymond Carver basiert, und tatsächlich entstanden sie nach Auskunft von Schulze durch die Beschäftigung mit Carvers Geschichten.In einem Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juli 2000 berichtet Schulze: "Es war Zufall, dass ich nach Abschluss meines ersten Manuskriptes (gemeint ist 33 Augenblicke des Glücks, SL) Raymond Carver las. Plötzlich hatte ich einen Ton im Ohr, mit dem ich meine hiesige Gegenwart ansprechen konnte. Dadurch, dass ich versuchte, den Stil der Short-Story eines Hemingway oder Carver auf die ostdeutsche Provinz nach '98 anzuwenden, ließ sich etwas mitteilen."
Neues Geld
Ein Beispiel für die Verwendung von Hemingway-Storys ist "Neues Geld", die zweite Geschichte aus den Simplen Storys. Er transformiert hier die Geschichte Up in Michigan, und verwendet den Plot in kaum modifizierter Form. Wie jeder Geschichte in Simple Storys ist auch dieser eine Zusammenfassung vorangestellt: Conni Schubert erzählt eine alte Geschichte: Ein Mann kommt in die Stadt, macht Geschäfte, nimmt sich ein Mädchen und verschwindet. Blauäugigkeit und Voraussicht. Das ist genau die Handlung von Hemingways Oben in Michigan.
Das Mädchen aus einem einsamen Ort, das sich in einen Fremden verliebt - obwohl das nicht explizit gesagt wird - ist hier wie dort das gleiche: Die naive Jungfrau vom Lande, die lange zögert und sich dann eher unwillkürlich, denn als Konsequenz eines Entschlusses dem Mann überlässt. Der Grund für die Faszination, die der Mann auf das Mädchen ausübt, ist bei Hemingway wie bei Schulze wohl das Fremde an ihm. Die Junggesellen im Dorf oder in der Kleinstadt sind Jugendfreunde, kommen als Liebhaber nicht in Betracht. Da ist die Affaire mit dem Fremden vorprogrammiert.
Bei Hemingway nimmt sich der Mann das Mädchen auf einem kalten
Bootssteg. Er ist betrunken, sie geht mit ihm. Halb zog er sie, halb sank
sie hin. "Du darfst es nicht tun, Jim Du darfst nicht" sagt sie mehrmals.
Dennoch ist es keine Vergewaltigung. Sie sagt nein, lässt es aber
geschehen. Danach schläft der Mann auf ihr liegend ein. Der letzte
Satz: "Ein kalter Nebel kam von der Bucht her durch die Wälder herauf."
spiegelt ihre Gefühle.
Hemingway entspricht hier voll seinem Macho-Image: Die Frau ist, wie
in vielen seiner Geschichten, ein willenloses Objekt der Begierde. Schulze
ändert die Erzählperspektive und erzählt die Geschichte
aus der Sicht des Mädchens. Auch bei Schulzes Geschichte sind die
letzten Sätze entscheidend. Es wird aber nicht nur die Enttäuschung
der Frau gezeigt, sondern Schulze wendet die Geschichte in eine Parabel
über den Anschluss Ostdeutschlands. Das Mädchen beendet ihre
Ich-Erzählung mit dem Komentar ihrer Eltern: "Obwohl ich so naiv und
blauäugig gewesen wäre, sagen sie (nämlich die Eltern, SL),
hätte ich bereits sehr früh - als sich die anderen noch Illusionen
hingaben -, bereits da hätte ich gewusst, wie alles hier kommen würde.
Und damit haben sie ja auch irgendwie recht." Damit bekommt die Willenlosigkeit
der Frau eine Bedeutung, steht in einem gesellschaftlichen Kontext. Sie
wird zur Personifikation von Neufünfland.
Mit den Short Cuts haben die
Geschichten gemein, dass die Personen der Handlung in mehreren Geschichten
auftauchen. Aus jeder Geschichte erfährt man etwas über eine
oder mehrere Personen, was das Geschehen in eine randeren Geschichte erhellt.
Manche Geschichten versteht man erst, wenn man eine andere gelesen hat.
Erst wenn man auch die anderen Geschichten gelesen hat, weiß man
zum Beispiel richtig, was die Anklage von Zeus (Dieter Schubert) gegen
Ernst Meurer in der ersten Geschichte bedeutet.
Zugvögel
Beim ersten Lesen durchschaut der Leser das komplizierte Geflecht der
Beziehungen zwischen den einzelnen Personen noch nicht richtig. (Ich gestehe,
dass es mir immer noch so geht, SL) Schulze verlangt sehr viel vom Leser. Schulzes
Geschichten können einzeln geselen werden. Aber zum Verständnis muss man
auch die anderen Geschichten kennen und im Hinterkopf haben, und das ist
ein wenig viel verlangt. Aber einige Geschichten sind auch aus sich selbst
heraus verständlich.
Ein Beispiel ist Zugvögel, die fünfte Geschichte aus
Simple Storys. Hier geht es um einen Autounfall: Dr. Barbara Holitzschek kommt
ziemlich fertig und offensichtlich geschockt zu Lydia, die als Tierkonservatorin
in einem Museum arbeitet. Sie habe einen Dachs überfahren. Da das
Museum noch einen Dachs zum Ausstopfen braucht, fährt Lydia mit Holitzschek
zur Unfallstelle. Unterwegs verstärkt sich der Eindruck, dass Holitzschek
völlig am Ende ist, dass etwas geschehen sein muss, was sie stark
mitgenommen hat. Sie passieren eine Unfallstelle, die Polizei und ein Krankenwagen
sind vor Ort, aber keine Unfallautos. Holitzschek hält an und steigt
aus, spricht mit einem Polizisten. Es wäre kein Dachs gefunden worden,
sagt Holitzschek zu Lydia, als sie wieder im Auto ist. Eine sehr schön
um ein Geheimnis herum geschriebene Geschichte, es geht um das Verdrängen
eines Traumas.
In der 18. Geschichte wird das Thema noch einmal aufgegriffen: Holitzschek
hat einen immer wiederkehrenden Alptraum: Sie sitzt im Auto am Steuer und
überholt einen Radfahrerin. Als sie sich umsieht, ist die Radfahrerin
weg. Im nächsten Ort wird sie von einem Mann mit blutigen Händen
als Mörderin beschimpft, sie muss auf ihre Verhaftung warten. Dann
kommt ihr Mann, der Abgeordnete Frank Holitzschek, und sagt, "Wenn wir uns
beeilen, merkt es niemand". Hier wird klarer, was passiert sein muss. Und
man bekommt den Verdacht, dass Frau Holitzschek den Unfall auch deswegen nicht gemeldet hat, um die Wiederwahl ihres Mannes nicht zu gefährden.
Fazit
Ingo Schulze hat wirklich gute Kurzgeschichten geschrieben, die einen
Vergleich mit den Großen der Gattung nicht scheuen müssen. "Simple Storys" ist unbedingt
lesenswert, die Anstrengung lohnt sich.
(August 2000)
Link zum Thema
- Interpretation von "Neues Geld", der zweiten Geschichte aus "Simple Storys"E-Mail: webmaster@leixoletti.de
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