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An der Bucht


Diese Geschichte entstand auf Anregung durch das mikroskopische Bild eines dünn geschliffenen Opals
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Er stand am Höhlenausgang und sah hinaus aufs Meer. Es war früher Morgen. Der Schatten des Berges über dr Höhle lastete schwer auf dem türkisgrünen Wasser und ließ es in der Nähe des Ufers dunkelgrün erscheinen.

Dicht vor seinen Füßen, wo das Wasser den Fels berührte, zog sich eine orangefarben leuchtende Linie hin. Phosphoreszierendes Glimmen von Leuchtalgen markierte die Grenze zwischen Land und Wasser. Links von ihm, im Westen, stieß eine Landzunge in die Bucht. An ihrer ansteigenden Flanke zog sich dichtes Buschwerk hoch, hin und wieder durchsetzt von einzelnen Pinien. An der Spitze der Landzunge lag ein einsames Ruderboot, gestrandet im ruhigen, flachen Wasser. Im Osten ruhte die Dunkelheit noch schwer auf dem Meer und ließ die Grenze zwischen Wasser und Himmel undeutlich werden.

Nach einer Weile zeigte sich ein rötlicher Schimmer auf dem Wasser und begann es umzufärben. Die Sonne ging auf und veränderte Farbe und Stimmung des Bildes. Wie der Widerschein vulkanischen Feuers erschien die rote, dann orangefarbene Stelle, die die Sonnenstrahlen bereits erreichten. Bald schon würde die Bucht in vollem Sonnenschein liegen, bald wäre das magische Leuchten des Meeres verloren, bald würde die schwache Phosphoreszenz der Algen zu seinen Füßen ertrinken in einer Unmenge von Licht. Es würde das Bild verderben, ihm den Zauber nehmen.

Aber so lange würde er nicht warten. Er wollte dieses Bild festhalten. Er würde der Sonne nicht erlauben, weiter aufzugehen. Dieser Moment sollte nicht vorübergehen, dieser Augenblick, in dem die Elemente koexistierten: dunkles Gestein, türkisgrünes Wasser, blaue Himmelswand darüber und der Widerschein des Feuers.

Er hielt die Zeit an, wie man den Atem anhält, und stemmte sich gegen ihren Lauf. Wie lang würde es ihm gelingen, der Kraft Widerstand zu leisten? Gegen das Naturgesetz war er schwach, aber er würde nicht nachgeben. Er schloss die Augen, um sich ganz auf seinen Kampf gegen die Zeit zu konzentrieren. Auch jetzt noch sah er die blaue Bucht vor sich. Das Bild hatte sich so fest eingeprägt, dass er nicht fürchten musste, es wieder zu verlieren. Einen Moment lang noch hielt er stand gegen die Zeit, um sich ganz sicher zu sein. Dann aber gab er nach und atmete tief ein.

Mochte die Zeit um ihn herum weiterlaufen, in ihm selbst stand sie still. Die Bucht lag vor ihm, genau so, wie er sie gesehen hatte, bevor er die Augen geschlossen hatte: die von keiner Welle gestörte ebene Fläche des Wassers, das unbewegte Boot, der orangefarbene Widerschein des Feuers.

Das auf Grund gelaufene Boot war nun sein Boot. Er würde in diesem Bild nicht rudern müssen, das Boot lag ja fest, und keine Strömung trieb es weg. Die perfekte Ruhe würde bleiben – für immer, wenn er es wollte.

(Februar 2001-März 2001)

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