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Chironex fleckeri


Eine Art Krimi mit verblüffendem Ausgang. Übrigens: Chironex fleckeri gibt es wirklich - googel das mal!
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Es ist nun einige Monate her, da war ich zur Erholung in der Gegend südlich von Altamirez. Ich besitze dort ein altes Landhaus, zu dem auch ein schöner Garten mit Schwimmbecken gehört.

Es war ein recht heißer Nachmittag, und so hatten Mademoiselle R. und ich den Schatten der Terrasse gesucht. Auf meinem Liegestuhl genoss ich die Ruhe und verspürte keinen Drang zu baden. Ich lag sehr angenehm zwischen einem Drink und Mademoiselle. Sie war, wie man so sagt, eine Dame der Gesellschaft: Sie verkehrte in Botschaftskreisen, bei den französischen Großindustriellen des Landes, wurde selbst zu Empfängen des Präsidenten eingeladen. Und sie genoss allerorten große Sympathie, bei manchem auch mehr. Ihr herrliches Haar und ihr Lachen waren eben beliebt Junggesellen.

Wir beiden ließen es uns also wohlsein. Mein guter Freund K. jedoch, der kaum jünger ist als ich, war gleich nach seiner Ankunft im Wasser verschwunden und spulte nun die Schwimmbahnen ab, als gälte es sein Leben. Offensichtlich wollte er Mademoiselle beeindrucken, aber sie durchschaute diese Absicht und würdigte seine Übungen keines Blickes. Wenn sie einmal aufsah, so nur ganz und gar zufällig, um etwa die Ursache eines Geräusches im Garten zu erspähen oder einem aufsteigenden Vogel mit den Augen zu folgen. Oder sie ließ ihren Blick über die wunderbaren Blumenrabatten schweifen, die anzulegen ich vor kurzem Anweisung gegeben hatte.

Unsere Trägheit wurde nur noch von der flach ausgestreckten Landschaft übertroffen, als wir mit einem Male bis ins Mark durchgerüttelt wurden von einem Schrei.

"Kommen Sie her, um Gottes willen, kommen Sie schnell hierher! Ich muss hier raus!" K. versuchte, offensichtlich in Panik, so schnell wie möglich das Ufer zu gewinnen, spritzte mit Wasser wie ein Flusspferd und kam doch nicht vom Fleck.

Schließlich wuchtete er seinen Körper auf die Terrasse - und wir waren zutiefst erschrocken über die krebsrote Farbe, die seine Haut aufwies. Aber noch schlimmer: er keuchte und er zitterte am ganzen Körper.

"Eine Qualle! O Gott, er ist ja rot über und über, der ganze Rücken! Schnell, Mr. Lean, unternehmen Sie etwas."

Da ich einige Tage zuvor einen Zeitschriftenartikel über Quallen gelesen hatte, erkannte ich die Symptome.

"Zunächst müssen wir Ruhe bewahren, Mademoiselle, sie sind ja ganz erregt. So beruhigen Sie sich doch."

Ich sah K. keuchend am Boden liegen, manchmal zuckte die Haut über den Schultern, und dieses Zucken ging bald über in einen Schüttelfrost, der den Armen wie das schlimmste Fieber packte. Es war schrecklich. Mademoiselle lief aufgeregt hin und her, rief nach Hilfe und fuhr mich an, ich sollte etwas unternehmen. Da ich nicht weiter auf ihren hysterischen Anfall reagierte, begann sie, mit der Hand Wasser aus dem Schwimmbecken auf K.s Körper zu schöpfen. Hastig, wie ein Schaufelraddampfer, der auf dem Weg stromauf in Gefahr gerät, abgetrieben zu werden. Ich achtete nicht weiter auf sie. Ich überlegte. Die einzige Flasche Wein, die ich im Hause hatte, war ein Einundsechziger Poujeaux, eine Flasche, die ich fürs Abendessen mit Mademoiselle R. gekauft hatte. Ich sah noch mal zu K. hinab. Es tat mir in der Seele weh, aber ich ging ins Haus, ohne weiter zu zögern.

Als ich mit dem Wein zurückkam, hatte sich die Aufregung von Mademoiselle zur Raserei gesteigert: Ihre Wangen glühten, sie schüttelte die Fäuste und schlug sie mir an die Brust. Nun, Sie kennen die Frauen! Aber ich wandte mich ab, entkorkte sorgfältig die Flasche und goss ein Glas ein. Er schmeckte wunderbar, sogar jetzt schon. Man hätte einen solchen Wein natürlich einige Stunden chambrieren müssen...

Ich sah, dass Mademoiselle drauf und dran war, mir das Glas aus der Hand zu schlagen. Natürlich nehme ich ihr diesen Ausbruch in keiner Weise übel. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich das einzige tat, was K. noch retten konnte, und dass ich es unter Schmerzen tat. Mit Bedauern tauchte ich meine Finger in das Cuvée und bestrich vorsichtig den Rücken K.s mit dem Wein. Schließlich goss ich das ganze Glas über ihn, wobei der Gepeinigte aufschrie. Die feine Säure des Weins brannte ihm wohl in den offenen Wunden. Wahrscheinlich kennen Sie diesen Jahrgang des Weins nicht, er ist recht selten. Zur Zeit befindet sich der Wein an seinem Höhepunkt, er ist voll trinkreif und zeigt ein schönes Gleichgewicht zwischen Frucht und feiner Gerbsäure. In seiner Lage hätte K. wahrscheinlich einen noch älteren Wein vorgezogen, einen mit weniger Säure, aber er (oder ich) hatte keine Wahl.

Nun, anscheinend hatte meine Behandlung Erfolg, denn als fast die gesamte Flasche dahin war, schienen sich seine Krämpfe zu lösen, und er lag ruhiger auf den Marmorplatten.

Nach etwa einer Stunde schließlich war die Rötung fast verschwunden, und es ging ihm wieder soweit gut, dass er sich, in einen Bademantel gehüllt, zu uns setzen konnte, ja er scherzte und plauderte schon wieder mit unserer charmanten Freundin.

"Woher wussten Sie nur dieses Wundermittel, mein lieber Lean, das mit dem Wein? Sie haben mir wahrhaftig das Leben gerettet. Ich glaubte, jetzt wäre es vorbei."

"Nun, es hat den Nachteil, dass wir heute Abend werden Bier oder etwas anderes trinken müssen. Es war ganz hervorragender Bordeaux, nicht leicht zu bekommen hier, und es tat mir in der Seele weh, das können Sie mir glauben..."

"Aber schließlich haben Sie es doch getan, Mr. Lean, das war ganz richtig von Ihnen. Auf den Wein da pfeife ich, wenn ich daran denke, wie Mr. K. da eben gelegen hat." Sie sah mitleidig zu K. hinüber, der sich aber wieder glänzend erholt hatte.

"Ja, er hätte wirklich sterben können. Sehen Sie, vor kurzem las ich im National Geographic einen Artikel über die Quallenpest. Diese Art, sie heißt Chironex fleckeri, ist so ziemlich das gemeinste und gefährlichste, was mir so untergekommen ist. Denken Sie nur: Ihr Nesselgift ist tatsächlich absolut tödlich für den Menschen."

K. wurde wieder blass. "Was erzählen Sie da? Sterben? So schlimm? Sicher, es hat gebrannt wie Napalm, und wie dann das Zittern mich über kommen hat..."

"Ja, K., Sie haben schon recht gehabt vorhin. Es hätte Sie das Leben gekostet, wenn ich nicht den Wein... Wein, alter Wein ist nämlich das einzige, was hilft. Man muss ihn drüberschütten, wissen Sie?"

Nachdem ich erklärt hatte, was ich mit dem Wein gemacht hatte, plauderten wir über dies und das, über Wein, die Parties der letzten Wochen und so fort. Mademoiselle R. hatte, wie viele ihres Volkes, die Angewohnheit, bei Reden die Hände zu benützen. Und einmal streckte sie die Hand so vor, dass ihr nackter Unterarm unter dem Bademantel hervorkam. Dabei fielen mir weiße Streifen auf ihrem Arm auf.

"Mademoiselle, hatten Sie jemals einen schweren Unfall?"

"Einen Unfall? Mr. Lean, was sagen Sie da, einen Unfall? Ich hatte niemals einen Unfall..."

"Nun, Sie haben da am Arm etwas, was wie Narben von tiefen Wunden aussieht." Sie besah die Innenseite ihres Armes und runzelte die Stirne.

Da kam mir ein scheußlicher Gedanke. Chironex fleckeri! Ich hatte die Symptome völlig falsch in Erinnerung gehabt. Zwar war in dem Zeitschriftenartikel wirklich von Rötungen die Rede gewesen, aber da hatte nichts, rein gar nichts, von Krämpfen oder unerträglichen Schmerzen gestanden! Weiße Striemen! Weiße Striemen sollten sich abzeichnen auf der geröteten Haut. Nicht K. war es, der Kontakt mit C. fleckeri gehabt hatte, sondern Mademoiselle R.! Die Qualle musste sie gestreift haben, als sie mit der Hand Wasser auf den Körper von K. befördert hatte.

Schnell entblößte ich ihren Unterarm und goss den restlichen Wein darüber, ohne auf ihren Widerstand zu achten. Aber es war nicht mehr als ein paar Tropfen, was ich übriggelassen hatte.

An diesem Abend noch starb Mademoiselle R. Vergeblich hatten K. und ich versucht, Wein aufzutreiben in der Nachbarschaft. Als wir welchen hatten, war es zu spät. In ihrer Sterbestunde hielten wir jeder eine Hand von ihr. Ihre Hände waren kalt, feucht und weißgrünlich, aber unendlich weich, so weich! Am weißen Ärmel ihres Bademantels waren noch rote Flecken, als wäre ihr der Tod gewaltsam zugefügt worden. Und es war ein gewaltsamer Tod, sie zitterte gegen ihn an und gegen die Kälte, aber er besänftigte ihr Fieber und schließlich ließ er sie gnädig einschlafen.

Wie die Qualle in mein Schwimmbecken geraten war, das weiß bis heute keine Menschenseele. Die Verbindungstür zum Meer war seit ewigen Zeiten nicht mehr geöffnet worden, wie ich wusste, und mein Gärtner konnte das bestätigen. Das Wasser wurde aus Angst vor Haien einmal jährlich durch ein vergittertes Loch eingelassen, und zwar aus einem nahegelegenen Süßwasserflüsschen. Selbst die Polizei, die den Tod von Mademoiselle R. untersuchte, fischte zwar die Qualle aus dem Bassin, konnte aber nicht feststellen, woher sie gekommen war.

(1993 - Januar 1997)

Zur Biologie von Chironex fleckeri

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