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Pauline


Die Tochter eines Bauunternehmers als Dekorationselement bei einer Party
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Pauline hatte sich fein gemacht und ihrem Vater zuliebe ihr grünes Samtabendkleid angelegt. Ihr Vater wollte sie bei solchen Parties eigentlich immer dabeihaben, als aufheiterndes Element, wie er ihr einmal gesagt hatte. Damit sich die Gäste auch mal über etwas anderes unterhielten als über das Geschäft.

Aber nun stand Pauline bereits eine halbe Stunde am Buffet, ohne dass irgend jemand sie angesprochen hätte. Sie hatte sich in der Nähe einer rosa Sahnetorte postiert und griff nun schon nach ihrem dritten Stück.

Aus Langeweile betrachtete sie die Gäste um sich herum und versuchte sich Spitznamen auszudenken. Zwei Meter neben ihr stand zum Beispiel "Carmen". Es war eine Frau mit dunklen Haaren, die hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenfanden, und mit dem dunklem Teint der Südländer. Carmen unterhielt sich mit Klemmi, einem schätzungsweise 25-Jährigen, der seine Unterarme so eng am Leib presste, dass sie überlegte, ob man ihn als Baby mitsamt der Arme in Leintücher gewickelt hatte.

Paulines Vater stand im Zentrum einer größeren Gruppe von Gästen und erzählte von seinem letzten Trip nach Barbados: "Geschäftlich natürlich, Sie verstehen."

Seine Gäste waren sämtlich Geschäftsfreunde oder Angestellte, denn Paulines Vater war Geschäftsführer einer mittelständischen Firma. Die meisten Anwesenden waren Herren im Anzug; es waren stiernackige Baulöwen mit weißer Mähne darunter, denen hochhackige Gespielinnen hinterher trippelten, und junge, aufstrebende Buchhalter im einzigen Abendanzug.

Vater sah präsentabel und zufrieden aus: Sein breites, sonst oft blasses Gesicht war nach dem Antillenaufenthalt leicht gebräunt und strahlte noch etwas von der Wärme der tropischen Sonne ab. Unter dem dunklen Anzug trug er ein sauber gebügeltes weißes Hemd, dessen Knopfleiste von einer dunkelblauen Krawatte verdeckt wurde. Sie war etwas zu kurz gebunden für ihren Geschmack und etwas zu breit, und sie bog sich über dem Bauch.

Paulines Vater wurde gefragt und antwortete, aber am meisten redete er selbst. Das war der Grund, warum er Parties liebte und alle zwei Monate eine veranstaltete.

"Mit dem neuen Wagen. Hab ich noch nicht erzählt? Seit kurzem ist doch der neue 350er herausgekommen. Eigentlich ist er noch unter Verschluss, aber als ich meinen Händler drauf anspreche, da sagt er, er hätte einen und könnte ihn unter Freunden schon abgeben."

Die Gäste quittierten seine Erzählungen mit bewundernden Ausrufen und höflichen Gegenfragen. Ihr Vater erntete Anerkennung ab, sonnte sich, schien an Leibesfülle, an Volumen noch zuzulegen.

Einer der Zuhörer aber, ein junger Mann - er gehörte wohl noch nicht lange zu Vaters Geschäftsfreunden, denn sie kannte ihn nicht - schien den Monolog leid zu sein und wandte sich ab. Einen Moment lang schweiften seine Augen durch die Halle, dann blieb sein Blick an ihr hängen.

Einige Male hatten sich ihre Blicke schon gekreuzt, als Pauline allein am Buffet stand und gelangweilt in die Runde schaute. Pauline fand, er sah gut aus mit seinen dunklen Haaren und braunen Augen. Sie schätzte ihn auf etwa 30 Jahre.

"Die Sahnetorte scheint gut zu sein? Würden Sie mir ein Stück..."

Wortlos schob sie ein Stück von der süßen Torte auf seinen Teller.

"Ihr Vater hat uns gerade von eurem neuen Auto erzählt. Tolles Ding. Haben Sie schon den Führerschein?"

"Nein, und ich bin auch gar nicht so scharf drauf. Ich werde wohl noch ein bisschen warten - wenn ich ihn überhaupt mache. Wozu denn auch."

"Also ich konnte es kaum erwarten, 18 zu werden."

"Ach Autos. Es gibt Wichtigeres, finde ich."

Pauline sah zu ihrem Vater hinüber.

"Autos sind doch zu 90 Prozent nur Angeberei, Statussymbol. Aber eigentlich - was ist das schon? Ein Haufen Blech."

"Na ja, sagen wir: ein Fortbewegungsmittel, ein oft überschätztes, das gebe ich zu."

Der junge Mann gab klein bei. Aber Pauline ließ nicht locker.

"Schon das ständige Wechseln regt mich auf: Jedes Jahr muss er das neueste Modell haben, nur damit er euch beeindruckt. Statt dass er sich einmal mit einem Auto anfreundet - wenn es schon ein Auto sein muss."

"Na ja, jeder hat seine kleinen Schwächen..."

Der junge Mann beschwichtigte, und das nervte Pauline. Dass man sich nicht mal konkret mit solchen Leuten auseinandersetzen konnte! Immer nur das nette Partygeplänkel, zu mehr reichte es nicht.

"Trinken wir darauf!"

Unwillig hielt sie ihm ihr Sektglas hin, damit er ihr zuprosten konnte. Ohne zu trinken stellte sie ihr Glas aufs Buffet.

"Entschuldigen Sie, ich muss noch jemanden anrufen."

Pauline lief in die Garage. Da stand er: der neue 350er, das neue Auto, der ganze Stolz ihres Vaters. Sie umrundete das silberne Ding, wobei ihre Hand über die Metallhaut glitt. Sie fuhr mit der Hand die Kotflügel entlang und versuchte, sich jede Kurve im Metall einzuprägen, jeden Glanzstreifen, den die Neonröhre darauf erzeugte. Eigentlich ein hübsch gestaltetes Ding, ein schönes Spielzeug. Harmlos.

Noch war es neu, begehrt und schön. Ein Spielzeug, das jedes Kind haben wollte. Aber nach ein, zwei Jahren gab es ein neueres, schöneres. Ihr Vater würde es verkaufen. Es würde von Hand zu Hand wandern, es wäre bald kein Spielzeug mehr, sondern nur noch ein Transportmittel. Es würde an Glanz einbüßen, veralten und schließlich verfallen.

Das Licht in der Garage ging aus, aber sie stand weiter neben dem Auto, die Hand auf einem Kotflügel. Sie spürte die Kälte des Metalls. Deutlich nahm sie den Verfallsprozess war, den das Auto durchlief, sie sah das langsame Rosten, den Zerfall an allen Enden, sah wie sich Rostbakterien durch die Hülle fraßen, wie dann das Automobil sich häutete, wie die Hülle Blasen warf und sich Schicht für Schicht abpellte, die Chromschicht als erste, dann die Farbe, die von Silber über ein mattes Grau in Rostbraun überging. Sie roch das rohe Metallfleisch, der Gestank von Öl und Rostschutzspray. Sie hörte, wie die zernagten Zylinder sich von entstandenen Faulgasen aufblähten, in den Nähten knarrten und schließlich zerplatzten. Dann hielt sie es nicht länger aus.

Sie machte kehrt und rannte auf die Toilette. Pauline zog das Geschirrhandtuch aus ihrem Hosenbund heraus, feuchtete es an und schluckte es, schluckte, bis nur noch ein Fitzelchen heraussah, das sie packen konnte. Sie dachte an die zerfressene Autoleiche in der Garage und zog an.

(Sommer 1996 - Mai 2001)

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