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Wolfgang Borchert: Das Brot

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die Kahlschlag-Geschichte vor dem Hintergrund der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt, wie eine Frau schweigend mit dem hässlichen Verhalten ihres Mannes umgeht. Damit zeigt er nicht nur die Mentalität der Zeit, er wirft auch heute noch moralische Fragen auf.

Inhaltsangabe

Mitten in der Nacht wacht eine Frau von einem Geräusch auf: Jemand hat in der Küche einen Stuhl umgestoßen. Sie merkt, dass ihr Mann nicht neben ihr liegt, steht auf und sieht in der Küche nach. Dort trifft sie ihren Mann, der seinerseits behauptet, er hätte etwas gehört und nachsehen wollen.

Auf dem Küchentisch steht der Brotteller, daneben liegt das Messer und einige Brotkrümel: Die Frau erkennt, dass ihr Mann heimlich Brot gegessen hat - Brot, von dem sie so wenig haben, dass sie es sich einteilen müssen. Sie sagt, sie hätte auch etwas gehört, aber es wäre wohl bloß die Dachrinne gewesen. Sie sieht ihren Mann nicht an, weil sie nicht ertragen kann, dass er sie nach 39 Jahren Ehe anlügt. Beide finden in diesem peinlichen und schrecklichen Moment, dass der andere älter aussieht als sonst. Gemeinsam gehen sie wieder zu Bett, wo die Frau nach einiger Zeit das vorsichtige Kauen ihres Mannes hört.

Am nächsten Tag schiebt sie ihm eine von ihren Brotscheiben zu, behauptet, sie könnte abends das Brot nicht vertragen. Er beugt sich tief über seinen Teller, schämt sich. In diesem Augenblick tut er ihr leid.

Interpretation

Gliederung

Man kann drei Teile der Geschichte unterscheiden. Im ersten Abschnitt geht die Frau ihrem Mann nach in die Küche. Der zweite Teil wird von der Szene in der Küche gebildet, und der Schluss der Geschichte spielt am nächsten Tag.

Die Geschichte genügt den Anforderungen an ein klassisches Drama. Das heißt, Raum und Zeit sind eng umgrenzt: Nur zwei Personen treten auf, der Zeitraum entspricht weniger als 24 Stunden, der Schauplatz beschränkt sich auf die Küche und das Schlafzimmer in der ehelichen Wohnung.

Erzähltechnik

Borchert erzählt die Geschichte in kurzen, einfachen Sätzen - also im Kahlschlagstil. So haben die ersten beiden Sätze nur eine Länge von vier Wörtern. In der Folge scheut sich der Autor weder vor Wiederholungen ("Es war halb drei", "Die Uhr war halb drei.", "Um halb drei.") noch vor unvollständigen Sätzen ("Nachts. Um halb drei. In der Küche"). Der Wortschatz ist auf das Vokabular eines Grundschülers begrenzt. Ein größer Teil der Geschichte besteht aus umgangssprachlichem Dialog, in dem sich die Hauptpersonen häufig wiederholen. Der Mann sagt "Ich dachte, hier wäre was.", dann nochmal "Ich dachte, hier wäre was" oder "ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was." Die Frau echot: "Ich hab auch was gehört", und nochmal: "Ich hab auch was gehört". Diese Wiederholungen verstärken beim Leser den peinlichen Eindruck der Situation. Dass in der Geschichte weder die Namen der beiden Hauptpersonen genannt werden noch ihr Aussehen beschrieben wird, verstärkt den Eindruck der Kahlheit.

Auktoriale Perspektive

Die Perspektive, die Borchert wählt, ist auktorial. Man merkt das daran, dass der Erzähler zwischen den Gedanken der beiden Hauptpersonen hin- und herspringt: Anfangs sehen wir die Szenerie aus der Sicht der Frau: "Sie überlegte, warum sie aufgewacht war." In der Küche erlebt man das Geschehen aber plötzlich auch aus dem Blickwinkel des Mannes: "Sie sieht doch schon alt aus, dachte er..." Die auktoriale Perspektive ist nicht der Blickwinkel einer typischen Kurzgeschichte. Borchert orientiert sich hier noch am Vorbild der Erzählung deutscher oder russischer Tradition (etwa Tschechow), weniger an amerikanischen Vorbildern wie etwa Hemingway.

Insgesamt legt es Borchert nicht auf eine Überraschung oder Pointe an, sondern erzählt eine Szene aus dem Alltag. Jedoch wählt er nicht ein banales Geschehnis, sondern eines, das die Situation im Nachkriegsdeutschland "blitzlichtartig erhellt". Das heißt, er nimmt eine Szene, die den Hautpersonen und dem Leser deutlich macht, was charakteristisch für die damalige Zeit war, was die Zeit beleuchtet.

Psychologische Ebene

"Das Brot" ist zunächst eine psychologische Geschichte. Die Betonung legt Borchert auf die Szene in der Küche: Der Mann wird von seiner Frau auf frischer Tat ertappt. Er weiß wahrscheinlich, dass sie die Situation durchschaut. Statt dass er sagt, dass er plötzlich Hunger gehabt hat, aufgestanden wäre und etwas Brot gegessen hat, tischt er ihr eine naheliegende, aber unglaubwürdige Geschichte auf. Das macht die Situation noch schlimmer.

In der Frau muss so der Verdacht aufkommen, dass ihr Mann seinen Diebstahl von vornherein – schon beim Abendessen – geplant hat: Dass er nur gewartet hat, bis seine Frau eingeschlafen war, um dann in die Küche zu gehen. Sie spricht jedoch nicht über diesen Verrat. Ist sie unfähig zum Konflikt? Vermeidet sie den Konflikt aus einenm bestimmten Kalkül – zum Beispiel weil sie von ihrem Mann ökonomisch abhängig ist? Oder einfach aus Liebe? Es wird in der Geschichte nicht gesagt. Doch ihr Verhalten passt in eine Zeit, in der es verpönt war, eigene Gefühle auszudrücken. Und in der die Menschen – aus Not, oder weil sie von der Nazirethorik dazu gebracht wurden – Konflikte eher unter den Teppich kehrten als offen ansprachen. Wie auch immer man dieses Verhalten beurteilt, es zeigt die Mentalität der Menschen Ende der 40er- oder Anfang der 50er-Jahre in Deutschland. Wenn das Verhalten der Frau aus heutiger Sicht als Zeichen von Konfliktscheu erscheint, so mag das Borchert ganz anders gesehen haben – als vorbildliches Verhalten der Frau.

Sozialökonomische Ebene

Borchert liegt daran, zu zeigen, dass es die materielle Not ist, die den Mann zur Lüge treibt. Obwohl Borchert die Lüge des Mannes offenbar nicht gutheißt, obwohl seine Sympathie auf Seiten der Frau liegt, stellt sich das Geschehen – zumindest aus heutiger Sicht – als Mundraub dar. Erzählt wird eine Geschichte aus Nachkriegsdeutschland. Der Autor portraitiert die sozialökonomische Situation. Der Konflikt zwischen den Hauptpersonen dient dazu, diese Situation zu beschreiben.

Moralische Ebene

Vom Standpunkt der Ethik her gesehen, ist "Das Brot" die Geschichte eines Verrats: Durch die Heimlichkeit, mit der der Mann in die Küche zum Essen geht, und durch seine Lügen beim Ertapptwerden, verrät er seine Frau, mit der er seit 39 Jahren verheiratet ist. Der Mann hätte sie beim Abendessen um etwas mehr Brot bitten können, als er normalerweise bekommt. Indem sie ihm am nächsten Morgen einen Teil ihres Brots abgibt, möchte sie ihm vielleicht deutlich machen, dass sie dazu bereit gewesen wäre, und verstärkt so seine Schuldgefühle.

Auf der anderen Seite ist es eine Geschichte über die Reaktion auf ein Unrecht allgemein. Die Frau stellt ihren Mann nicht zur Rede. Ob sie dies beabsichtigt oder nicht: Sie straft ihn mit christlichen Mitteln und folgt der Forderung: Wer dir eine Ohrfeige gibt, dem halte auch die andere Wange hin. Sie gibt ihm Zuckerbrot, das Peitsche ist. Sie straft ihn wortlos, er schämt sich wortlos, ohne Entschuldigungen. Keiner von beiden Akteuren, weder sie noch er, spricht über das Unrecht, über seine Gedanken oder Gefühle. Diese Sprachlosigkeit ist wohl charakteristisch für eine Zeit, in der die Gesellschaft das gerade überwundene Unrecht des Nationalsozialismus verdrängte.

Wolfgang Borchert

Borchert gehört zu den bekanntesten Exponenten der Kahlschlagliteratur. Er starb schon 1947 mit 26 Jahren, einen Tag bevor sein bekanntes Theaterstück "Draußen vor der Tür" uraufgeführt wurde.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Mai 2004

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