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John Cheever: Das grauenvolle Radio

- Inhaltsangabe und Interpretation -

John Cheever demontiert genüßlich den Voyeurismus und legt die Wurzeln des Ausspionierens von Mitmenschen bloß.

Inhaltsangabe

Jim und Irene Westcott und ihre zwei Kinder sind eine amerikanische Durchschnittsfamilie. Von anderen Familien der Mittelschicht unterscheiden sie sich nur dadurch, dass sie gerne klassische Musik aus dem Radio hören. Eines Tages geht ihr Radio kaputt, und Jim kauft ein neues. Doch aus dem Apparat kommen hauptsächlich elektrische Störgeräusche aus den anderen Wohnungen des Hauses. Auch nach einer Reparatur funktioniert das Gerät nicht richtig. Nun werden Gespräche und Geräusche aus den Nachbarwohnungen übertragen.

Zunächst amüsiert es die Westcotts, die privaten Gespräche mitzuhören. Besonders Irene sitzt stundenlang wie gebannt vor dem Radio. Allmählich jedoch deprimieren sie die Probleme, Ängste und die Gemeinheiten der anderen Leute. Jim macht ihr Vorwürfe: Es sei nicht recht, da zuzuhören. Irene fleht ihn an, nicht mit ihr zu schimpfen. Sie seine doch glücklich, die Ehe sei problemlos. Noch einmal lässt Jim das Radio reparieren - diesmal erfolgreich.

Jim jammert über die hohe Radiorechnung und beschuldigt Irene, ihn belogen zu haben, als sie gesagt habe, sie hätte eine Rechnung schon bezahlt. Außerdem ist sein Arbeitgeber in Schwierigkeiten; Jim wird weniger verdienen. Und Irene gebe das Haushaltsgeld unvernünftig aus. Irene bittet ihn, zu schweigen - womöglich könnte man sie hören. Da platzt Jim der Kragen: Woher Irene ihre plötzliche Tugendhaftigkeit habe? Sie habe doch damals den Schmuck ihrer Mutter gestohlen, ihrer Schwester nicht geholfen, Leuten das Leben zur Qual gemacht und ein Kind leichtfertig abgetrieben. Irene fühlt sich entehrt.

Interpretation

Cheever benutzt die unrealistische Eigenart des Radios, um die Doppelmoral Irenes zu enthüllen - und damit die der amerikanischen Mittelschicht, denn die Westcotts sind durchschnittlich. In der Geschichte, wie in den meisten Werken von Cheever (1912 bis 1982), geht es um Gesellschaftskritik. Damit steht er in einer Reihe mit John Updike und Raymond Carver.

Irene genießt zuerst das Glück des Voyeurs, später wird sie von ihrem Wissen deprimiert, bleibt aber dem seltsamen Radio verfallen. Erst am Schluss wird klar, warum: Sie braucht das Wissen um die Gemeinheit der anderen, um ihr eigenes schlechtes Gewissen zu entlasten. Sie möchte die Probleme der anderen kennen, um zu wissen, dass es ihr im Vergleich noch recht gut geht.

Irene ist harmoniesüchtig. Sie hat Angst vor einem Streit, weil sie befürchtet, andere könnten es hören. Sie hört gern die Schlaflieder eines Kindermädchens in ihrem Radio und findet die Leute der Heilsarmee netter als die Leute, die die Westcotts kennen. All das beruhigt ihr Gewissen.

Medienkritik

Die letzten Sätze der Geschichte deuten eine Medienkritik an: Während Jim immer noch auf Irene einschimpft, klingt die Stimme des Radiosprechers angenehm und unverbindlich - wenn er die Wetterdaten vorliest, aber auch, wenn von Unfällen, Hausbränden und anderen Katastrophen die Rede ist. Auch das normale Radio, die Medien insgesamt, haben eine beruhigende Funktion. Die geordnete, ruhige Präsentation sagt den Menschen, die Welt sei in Ordnung: "Luftfeuchtigkeit 89 Prozent."

Umständliche Erzählweise

Manchmal wirkt die Geschichte etwas langatmig. Zum Beispiel der erste Absatz, in dem die Westcotts beschrieben werden. Doch ist das nur auf den ersten Blick so. Hier wird versucht, die Eheleute jung, sympathisch und normal erscheinen zu lassen. Im zweiten Absatz dagegen - das alte Radio geht kaputt - hätte Cheever ein paar Sätze streichen können. Noch freigebiger geht der Autor mit dem Platz und der Zeit des Lesers um, wenn die Eigenheiten des Radios beschrieben werden. Bitterböse, aber realistisch wirken die "abgehörten" Gespräche. Sie zeigen die abscheulichen Gewohnheiten der Mittelschicht und lassen den Leser gewissermaßen teilhaben am vergnüglich-masochistischen Voyeurismus von Irene.

Die Geschichte ist aus auktorialer Perspektive geschrieben. Cheever schildert seine Personen aus der Sicht eines anonymen, unbeteiligten Beobachters: Irene Wescott war eine nette, unauffällige junge Frau..." Ihr Mann "war ein ernster Mensch, temperamentvoll und absichtlich naiv." (S. 190) Diese Art der Personeneinführung wirkt etwas plump. Das liest sich, als würde einem der Autor seine Meinung über die Protagonisten aufdrängen - ein Verstoß gegen die Forderung "Show, don't tell": Cheever hat sich hier nicht die Mühe gemacht, seine Behauptungen mit Beobachtungen zu belegen.

Cheever lässt die Absätze sehr lang werden. Der Dialog der Eheleute nimmt mehr als die Hälfte des Raumes ein; dazu kommen noch die Zitate aus dem Radio. Doch gerade am Anfang hätte Cheever vielleicht seine "erzählten", nicht "gezeigten" Geschehnisse kürzen sollen. So hätte er den Umfang um etwa ein Drittel verringern können. Bei unnötig langen Geschichten wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Probe gestellt. Es entgeht ihm dann leicht das Wesentliche.

John Cheever

Cheever gehört in eine Reihe mit John Updike und Raymond Carver. In seiner Story "Das grauenvolle Radio" von 1954 übt er ätzende Kritik an der amerikanischen Mittelschicht.

Bibliographisches

Letzte Änderung: April 2003

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