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John Updike: Dein Liebhaber hat eben angerufen

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Spannende Pointengeschichte mit einem genialen Kniff für Autoren: einem gekonnten, beabsichtigten Perspektivwechsel.

Inhaltsangabe

Richard Maple und seine Frau Joan leben mit ihren Kindern in Neuengland. Eines Tages ruft jemand an, Richard geht ans Telefon, aber als er sich meldet, legt der Anrufer auf. "Dein Liebhaber hat eben angerufen", sagt er zu seiner Frau und steigert sich in ein Gespräch hinein, über einen imaginären Liebhaber seiner Frau. Joan meint, er sollte sich wieder beruhigen, weil am Abend ihr gemeinsamer Freund Mack zum Essen käme. Richard äßert den Verdacht, Mack wäre ihr Liebhaber. Sie antwortet, er wäre wohl ernsthaft krank und solle sich mit seiner Erkältung ins Bett legen. Er gehorcht, und als er im Bett liegt, klingelt das Telefon. Joan nimmt ab und spricht mit dem Anrufer. Danach sagt sie Richard, es wäre ein Vertreter gewesen. Das höre sich sehr glaubhaft an, meint Richard und legt sich in die Kissen zurück - überzeugt, dass es keinen Liebhaber gibt.

Mack erscheint abends zum Essen und erzählt von seiner Frau, die auf Scheidung klagt. Er scheint noch immer in sie verliebt zu sein und die Kinder zu vermissen. Mack und Joan haben keine Zigaretten mehr, und so macht sich Richard trotz seiner Erkältung auf den Weg, um welche zu holen. Als er zurückkommt, sieht er durch die Fenster, wie Joan und Mack sich küssen. Halb im Ernst macht er ihnen übersteigerte Vorwürfe: Sie inszenierten das Kamasutra in seiner Küche. Die beiden beteuern, es hätte nichts damit auf sich.

Am nächsten Tag setzen die beiden Eheleute ihre Gespräche um den Liebhaber und Mack fort. Es klingelt, Joan hebt ab, aber der Anrufer legt sofort wieder auf. Joan mutmaßt, es wäre Richards Geliebte gewesen. Joan geht zum Tennisspielen, während Richard mit den Kindern unterwegs ist. Mittags treffen sie sich wieder zu Hause, und als sie ein gemeinsames Mittagsschläfchen machen, klingelt das Telefon in einem anderen Raum. Keiner von beiden geht an den Apparat. Die Geschichte endet mit dem Satz: "Dann legte der Liebhaber auf."

Interpretation

Die Geschichte behandelt das Hauptthema Updikes: Den Verfall der Werte in der amerikanischen Gesellschaft, besonders in der Mittelschicht Neuenglands. In dieser Geschichte ist es das Fremdgehen in einer anscheinend glücklichen Ehe.

Richard ist von Anfang bis Ende überzeugt, dass es keinen Liebhaber gibt. Um das zu verdeutlichen, berichtet Updike an einer Stelle auch die Gedanken von Richard: Er "legte sich auf die Kissen zurück - überzeugt, dass er ungerecht war und dass es keinen Liebhaber gab." Selbst als er sieht, dass sich Mack und seine Frau küssen, ahnt er nichts Böses. Er spielt den eifersüchtigen Ehemann, aber er ist nicht eifersüchtig. Sonst würde er nicht so ironisch-übertreibend vom Kamasutra in der Küche sprechen. Richard genießt das neckische Spielchen.

Der Trick Updikes besteht darin, die Unsicherheit des Lesers, ob "da etwas ist", bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Der Leser weiß nicht, ob Joan einen Liebhaber hat, oder Richard eine Freundin, oder ob vielleicht beide fremdgehen. Wie bei einer Detektivgeschichte weckt Updike abwechselnd Verdacht gegen Richard und Joan, dann gegen beide, und zerstreut den Verdacht wieder. Damit befindet sich der Leser auf gleicher Augenhöhe wie die Protagonisten. Der Erzähler folgt Richard, lässt die Welt sich in Richards Augen spiegeln. Und da Richard unbesorgt ist, neigt der Leser eher zu der Ansicht, dass "nichts dran ist".

Erst im letzten Satz mischt sich der Autor ein und macht klar: Es gibt einen Liebhaber. Hier schlägt die personal erzählte Geschichte in die auktoriale Perspektive um. Dieser geschickte Schachzug ermöglicht die Pointe: Richard hat Grund zur Eifersucht.

Der Liebhaber muss nicht Mack sein - seine Liebe zu seiner Frau scheint echt. Aber es gibt einen Liebhaber. Damit hat sich das Necken von Richard seiner Frau gegenüber in Ernst verwandelt. Im Ungewissen bleibt, ob auch Richard eine Geliebte hat.

Die Geschichte ist meisterhaft erzählt. Ein alltäglicher Vorgang - man wird angerufen, und der Anrufer legt auf, ohne sich zu melden - wird zum Anlass der Geschichte. Der Vorgang ist banal genug, um auf die leichte Schulter genommen zu werden. Andererseits ist er auch ein glaubhafter Grund für Eifersucht. Von den vielen Möglichkeiten, die dieser Anfang bietet, entscheidet sich Updike für die Tragödie: Die Eifersucht ist berechtigt, das amüsant-ironische Spiel Richards hat einen ernsten Hintergrund.

Updike versteht es, Spannung aufzubauen und bis zum Schluss zu halten. Er gibt Richard eine meisterhafte Ironie und lässt Joan kaltblütig erscheinen. Es gibt wenig Überflüssiges in der Geschichte. Einige pittoreske Szenen, vor allem die Beschreibung der Kinder, verstärken die Wirklichkeitsillusion.

John Updike

Der 1932 geborene Amerikaner John Hoyer Updike schreibt über den Verfall der amerikanischen Gesellschaft, insbesondere des Mittelstandes in Neuengland. Seine Rabbit-Romane handeln vom Leben eines Durchschnittsamerikaners von der Eisenhower-Ära bis in die achtziger Jahre. Zu Updikes bekanntesten Werken gehören außerdem "Die Hexen von Eastwick" (1984) sowie "Brazil" (1994).

Bibliographisches

Letzte Änderung: März 2003

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