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Sherwood Anderson: Der Denker

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Andersons Geschichten haben Hemingway und dadurch mittelbar die moderne Situationsgeschichte beeinflusst. Anderson gilt als Erfinder der amerikanischen Kurzgeschichte.

Inhaltsangabe

Seth Richmond lebt zusammen mit seiner Mutter in der Kleinstadt Winesburg im amerikanischen Ohio. Wenn seine Mutter ihn schimpft, reagiert Seth nicht, wie sie es erwartet. Er zittert nicht, er schluchzt nicht, er rennt nicht auf sein Zimmer, sondern er sieht ihr fest in die Augen, wodurch er Zweifel und Unsicherheit bei ihr weckt. "Die Wahrheit war, dass der Sohn auffallend klar zu denken wusste und die Mutter nicht." Immer seltener wagt sie es, ihn zu schimpfen.

Eines Tages wird Seth bewusst, dass die Leute in dem kleinen Städtchen Winesburg alle unsäglich viel reden, reden über nichts. Er dagegen ist in Winesburg als "stilles Wasser" bekannt, man respektiert ihn, aber er ist von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Man sagt, er wäre wie sein Vater, der immer unauffällig und beliebt war, bis er eines Tages einen Streit mit einem Journalisten anfing und von diesem in Notwehr erschossen wurde. So heißt es von Seth: "Eines schönen Tages wird er ausbrechen."

Seth ist mit George Willard befreundet. Der erzählt ihm, er habe sich in ein Mädchen namens Helen White verliebt. Seth soll zu ihr gehen und ihr von Willards Liebe erzählen, aufpassen, wie sie reagiert. Er weigert sich und verlangt, George solle es ihr selber sagen. Seine Ausgestossenheit macht Seth zu schaffen. Er beschließt, fortzugehen aus der Kleinstadt, um Arbeit zu finden.

Seth geht zu Helen, mit der ihn seit Kindestagen eine Vertrautheit verbindet. Er erzählt ihr von seinem Entschluss und fragt sie, ob sie ein Stück mit ihm gehen wolle. Sie freut sich und kommt mit. Ein erotisches Situation ergibt sich zwischen den beiden, aber Seth möchte sie plötzlich beeindrucken durch seinen festen Entschluss. Sie ist beeindruckt, aber gleichzeitig ist die erotische Situation vorüber. Sie sagt, er solle gehen und seiner Mutter den Entschluss mitteilen, und zwar gleich. Dann läuft sie davon. Seth überlegt, ob er ihr nachlaufen soll. Er entschließt sich, es nicht zu tun. Die letzten Sätze schildert die geflüsterten Folgerungen Seths:

"Wahrscheinlich wird sie sich von jetzt an über mich lustig machen. (...) Das ist alles, was dabei herauskommt. Und wenn es darum geht, jemanden zu lieben, dann werde ich es niemals sein, sondern irgend jemand anderes - irgendein Dummkopf - irgend jemand, der viel redet - jemand wie dieser George Willard."

Interpretation

Seth hält sich für den einsamen "Denker", der im Titel genannt wird. Er ist von der Gemeinschaft ausgeschlossen und fühlt sich als überlegener Außenseiter. Er wird in einer Entscheidungssituation gezeigt: Entweder wird er sich in die (geschwätzige) Gemeinschaft einfügen oder weggehen.

Seth will etwas ändern, weggehen und arbeiten - etwas tun, statt immer nur zu reden. Aber statt einfach wegzugehen, geht er zu Helen, redet mit ihr. Redet über seinen Entschluss, statt zu handeln. Er ist nahe daran, sich zu verlieben. Aber am Ende siegt seine Eitelkeit: Er will sie beeindrucken. Helen fordert ihm die Verwirklichung seines Redens ab - aber er zögert. Sie läuft davon - handelt also - und er tröstet sich darüber hinweg. Sie wird jemand lieben, der viel redet. Jemanden wie George. Dabei hat Seth in diesem Moment zuviel geredet.

Offener Schluss

Den Schluss lässt Anderson offen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Fortsetzungsgeschichte: Der Leser soll sich Gedanken machen, was Seth in der Zukunft tun wird. Geht er, geht er nicht, und wenn er nicht geht: wie ändert sich seine Beziehung zu den anderen Menschen? Vielleicht geht Seth wirklich weg, aber wahrscheinlich ist es nicht. Er hat sich für das Reden entschieden. Nichts wird sich ändern.

Anderson erzählt eine slice-of-life-Geschichte, die wie alle Geschichten aus dem "Winesburg"-Zyklus von einem Menschen handelt, von seinem Charakter und von seiner Beziehung zu den anderen Bürgern der Kleinstadt. Sie zeigt einen Menschen in einer Entscheidungssituation. Im kritischen Moment - am Ende der Geschichte - entscheidet er sich gegen das Handeln und für das Reden, aber gleichzeitig gegen die Gemeinschaft mit den Stadtbewohnern und die Gemeinschaft mit Helen. Auf diese Entscheidung hin läuft die Geschichte zu.

Auktoriale Perspektive

"Der Denker" ist aus auktorialer Perspektive geschrieben: Es werden nicht nur die Gedanken von Seth berichtet, sondern auch die seiner Mutter. Anderson scheut sich auch nicht vor eigenen Bewertungen: "Aus einer fast krankhaften Hochachtung vor seiner (Seths) Jugend verhielt sie sich in seiner Gegenwart meistens still." Außerdem beginnt die Geschichte mit einer länglichen Abhandlung über den familiären Hintergrund und schildert die Lage des Hauses, statt mit der Handlung oder ihren Personen zu beginnen. Hierin zeigt sich, dass "Der Denker" noch keine moderne Kurzgeschichte, sondern eine Vorform ist.

Sherwood Anderson

Anderson (1876-1941) verließ die Schule im Alter von 14 Jahren, arbeitete in verschiedenen Berufen, wurde Soldat im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 und begann dann zu schreiben. Bekannt wurde Anderson mit der Kurzgeschichten-Sammlung "Winesburg, Ohio" (1919), die als "Roman" bei Suhrkamp zu haben ist. Zu den Bewunderern Andersons gehörte Ernest Hemingway, dessen Situationsgeschichten von ihm beeinflusst sind.

Bibliographisches

Letzte Änderung: April 2003

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