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Ray Bradbury: Der letzte Zirkus

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Der Science-Fiction-Autor Bradbury zeichnet das Bild einer vom Untergang bedrohten Welt. Und er ruft uns den Kalten Krieg in Erinnerung zurück.

Inhaltsangabe

An einem Oktobermorgen zieht in einem Städtchen ein Zirkus ein. Zwei Jungen beobachten aufgeregt, wie das große Zelt augebaut wird.

Nach Hause zurückgekehrt, hört Douglas, der eine von den Jungen, seinen Vater am Frühstückstisch jammern. Das Familienoberhaupt liest die Zeitung und stellt fest, dass von nichts anderem berichtet wird als von Kriegen und Bomben. Er meint, die Welt wäre bedroht, jeden Moment könnte eine Bombe einschlagen. Die Menschheit hat Millionen Jahre gebraucht, um es dahin zu bringen, wo sie jetzt ist, aber mit einem Schlag könnte das alles zerstört werden. Douglas' Mutter will von diesen Dingen nichts wissen: Ihre Gedanken drehen sich um den Alltag, die große Wäsche, die sie in dieser Woche zu erledigen hat.

Der Sohn Douglas meint zu den Weltuntergangsphantasien, das könne einfach nicht sein. Er fragt, wie ihr Wohnort aussah, bevor es das Städtchen gab. Sein Vater antwortet: Es gab nur Wälder, den See und die Berge. Nicht einmal Indianer hätte es hier gegeben.

Douglas geht nach dem Frühstück mit seinem Freund zum Zirkus zurück: Sie arbeiten dort, um sich Freikarten für den Abend zu verdienen. Am Nachmittag sehen sie im Kino einen Indianerfilm und danach eine Wochenschau. Die Jungs juxen herum und beschießen sich in ihren Spielereien mit Atombomben.

Beim Abendessen ist der Atomkrieg wiederum Thema. Der Vater spielt sogar mit dem Gedanken, das Geschäft zu verkaufen und nach Mexiko zu ziehen. Er sollte lieber das Zeitungsabonnement kündigen, meint die genervte Mutter. Schließlich stimmt ihr der Vater zu.

Am Abend geht Douglas mit einem Freund hinaus zum Zirkus. Die beiden Freunde sind gefesselt von den bunten Vorführungen. Aber einmal sieht Douglas durch ein Loch im Zelt hinaus: Draußen ist alles leer und öde. Plötzlich vergeht ihm das Lachen und die Begeisterung.

Nach der Vorstellung sitzen Douglas und sein Freund noch lange im Zelt: Sie wollen beide nicht, dass es vorbei ist. Dann beobachten die beiden den Abbau des Zelts und den Abzug des Zirkus. Nun ist alles so, als wäre der Zirkus nie dagewesen.

Zuhause angekommen, legt Douglas sich ins Bett und weint. Seinem besorgten Bruder antwortet er, der Zirkus würde nie mehr wiederkommen.

Interpretation

Bradbury erzählt konsequent aus der Sicht eines kleinen Jungen: Durch die Wetluntergangsvisionen des Vaters angestiftet, erscheinen ihm Aufbau, Glanz und Abzug eines Wanderzirkus in einem neuen Licht. Den Zirkus macht Bradbury zur Allegorie unserer vom Krieg bedrohten Welt.

Gliederung

Die Geschichte gibt den Ablauf eines Tages im Leben von Douglas wieder. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen dreht sich alles um den Zirkus und den Weltuntergang. Der erste Teil beschreibt den Einzug des Zirkus und die Begeisterung der Jungen. Beim Frühstück wird dann der Hintergrund deutlich: die drohende Katastrophe. Das Thema wird weitergeführt durch den Kinobesuch am Nachmittag. Beim Abendessen werden die Gespräche vom Vormittag wieder aufgenommen. Den Hauptteil der Geschichte bildet die Beschreibung der Vorstellung und des wieder abgebauten Zirkus.

Vater und Mutter

Bradbury schildert, wie Douglas und seine Eltern mit der realen Bedrohung eines atomaren Weltkriegs umgehen: Die Mutter verdrängt die düsteren Gedanken. Der Vater dagegen ist sich der Bedrohung bewusst und malt sich ihre Konsequenzen aus. Er ist damit derjenige, der den Hintergrund der Geschichte verdeutlicht. Letztendlich stimmt er seiner Frau zu und verdrängt die Bedrohung ebenfalls.

Der Sohn

Der Sohn schließlich wehrt sich zuerst gegen die Vorstellung, die Zivilisation könnte plötzlich untergehen. Doch die Bilder, die der Vater mit seinen Erzählungen und Visionen heraufbeschwört, sowie die Bilder aus dem Kino beeindrucken ihn: Er und sein Freund bauen die Atombombe in ihre Spiele ein. Gegen Ende der Geschichte bemerkt er die Öde außerhalb des Zeltes und muss offenbar an das Aussehen der Welt nach einem Atomschlag denken. Außerdem hat sich der Gedanke so in ihm verfestigt, dass er der Überzeugung ist, der Zirkus würde niemals wiederkommen, es wäre die letzte Zirkusvorstellung gewesen. Am Ende weint er deshalb.

Initiationsgeschichte

Die Geschichte ist eine Initiationsgeschichte: Es ist wohl das erste Mall, dass Douglas mit der Möglichkeit konfrontiert ist, seine vertraute Umgebung könnte mit einem Schlag vernichtet werden. Doch wie in den meisten Initiationgeschichten geht es nicht darum, dass der Held etwas begreift, sondern darum, dem Leser dieselbe Einsicht zu vermitteln. Hier ist dies die Erkenntnis, dass der Mensch im Atomzeitalter mit einem Krieg alles schlagartig vernichten kann, was er aufgebaut hat.

Allegorie einer bedrohten Welt

Den Zirkus verwendet Bradbury als Allegorie einer vom Krieg bedrohten Welt - insbesondere der Welt des kalten Krieges. Die Welt erscheint als Zirkusvorstellung, in der beeindruckende Leistungen und komische Szenen dargeboten werden. Damit ist angedeutet, dass etwas Künstliches ist, etwas Vorrübergehendes ist. Das Verschwinden des Zirkus erscheint Douglas unwiederbringlich. Wegen der Weltuntergangsphantasien, die sich im Denken des Jungen eingenistet haben, glaubt er, der Zirkus würde nie wiederkehren. Und dies ist prinzipiell auch möglich, denn die Welt ist ja täglich vom Untergang bedroht. Damit ist der Zirkus eine Metapher aus der Welt des Jungen, die dem Weltbild des Vaters äquivalent ist.

Außenrum "nur Gegend"

Schon kurz nachdem der Zirkus aufgebaut ist, verschwindet er wieder. Die "Millionen Jahre", die für den Aufbau der menschlichen Zivilisation gedauert hat, erscheinen kurz. Davor wie danach gibt es nur die Öde. Die Welt des Zirkus ist zudem eng umgrenzt: Außerhalb gibt es ebenfalls "nur Gegend". Das Loch im Zirkuszelt bewährt Douglas einen Ausblick auf die Welt, wie sie vor dem Aufbau der Zivilisation war und wie sie nach einem Atomkrieg wieder aussehen könnte. Der Titel eines Lieds kommentiert diese Idee weiter: "The Old Gray Mare She Ain't What She Used to Be".

Keine Pointe

Bradbury verzichtet in der Geschichte auf eine Pointe. Der Leser erwartet zwar, während der Vorstellung oder kurz danach würde eine Bombe einschlagen, alles vernichten. Doch das geschieht nicht. Das fragile Gleichgewichts des Schreckens, aufrechterhalten nur durch die Drohung der gegenseitigen Vernichtung durch Atomwaffen, besteht weiterhin. Die Menschen warten weiter auf die Katastrophe, aber sie tritt nicht ein.

Ray Bradbury

Der 1920 geborene amerikanische Schriftsteller wurde bekannt mit der Erzählung (und dem Film) Fahrenheit 451 (1953) und dem Roman "Die Mars-Chroniken" (1950).

Bibliographisches

Letzte Änderung: Februar 2003

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