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Vladimir Nabokov: Die Benachrichtigung

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Nabokov vermeidet in "Die Benachrichtigung" gleich mehrere mögliche Pointen.

Inhaltsangabe

Eugenia Isakowna Minz, eine russische Emigrantenwitwe, lebt im Jahr 1935 in Berlin. Alte Bekannte von ihr, die Tschernobylskijs, empfangen eines Tages ein Telegramm und kurz danach einen Brief, in denen berichtet wird, dass der einzige Sohn Eugenia Isakownas in Paris bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

Gleichzeitig erhält die Witwe eine Postkarte, die ihr Sohn abgeschickt hat, als er noch am Leben war, und die länger auf dem Postweg unterwegs war.

Die Tschernobylskijs überlegen, wie sie die Nachricht der Witwe überbringen sollen. Besonders schwer ist das, weil die Witwe schwerhörig ist, so dass man ihr die traurige Nachricht ins Gesicht brüllen müsste, damit sie etwas verstand. Sie telefonieren mit allen Bekannten und beratschlagen, wie sie es anfangen sollten.

Eugenia Isakowna geht unterdessen ahnungslos zum Einkaufen. Sie erkundigt sich unter anderem beim Uhrmacher, ob Mischas Armbanduhr, die ihm in Paris kaputtgegangen war, schon repariert wäre. Immer, wenn sie etwas hören will, schaltet sie ihr Hörgerät an, ansonsten wandelt sie unbehelligt vom Lärm der Stadt dahin. Sie begegnet Madame Schuf, einer Bekannten, die noch nicht Bescheid weiß und sagt ihr, sie erhalte regelmäßig Nachrichten von ihrem Sohn.

Als die Alte zuhause ankommt, wartet schon ein Teil ihrer Bekanntschaft auf sie. Immer noch ahnungslos, versucht sie, die Gastgeberin zu spielen, aber man gebietet ihr Einhalt. Schließlich fordert Frau Tschernobylskij ihren Mann auf, die traurige Nachricht zu überbringen. Eugenia Isakowna wird allmählich immer nervöser, richtet ihr Hörgerät abwechselnd auf jeden Gast, um zu erfahren, worum es ging.

Als schließlich ein rundes Dutzend Bekannte in der Wohnung versammelt sind, brüllt Tschernobylskij schließlich schluchzend aus einer fernen Ecke des Zimmers: "Was gibt es da zu erklären - tot, tot, tot!"

Interpretation

Pointengeschichte vermieden

Interessant ist, wie Nabokov es vermeidet, eine Pointengeschichte zu schreiben. Schon der Anfang ist eine Spitze gegen die Pointengeschichte:

"Eugenia Isakowna Minz war eine ältere Emigrantenwitwe, die immer Schwarz trug. Ihr einziger Sohn war vor einem Tag ums Leben gekommen. Sie hatte es noch nicht erfahren."

Man könnte meinen, damit wäre der Geschichte der Wind aus den Segeln genommen, aber nein. Eine Pointengeschichte hätte das Telegramm und den Brief erwähnt, von einer wichtigen Nachricht gesprochen, diese aber dem Leser bis zum Schluss vorenthalten. Die Pointe - das Verkünden der Nachricht - wäre dann die Erklärung für das seltsame Herumgedruckse der Bekannten von Eugenia Isakowna gewesen.

Eine andere mögliche Pointe wird von Nabokov ebenfalls nicht verwirklicht: Die Bekannten könnten der Reihe nach von den Tschernobylskijs informiert werden und irgendwer könnte sich gegenüber Eugenia Isakowna verplappern, ihr das Beileid aussprechen, in der irrigen Meinung, sie hätte die Nachricht vom Tod des Sohnes schon erhalten.

Parallele Erzählstränge

Die Geschichte schildert über eine lange Strecke hinweg parallel die Ratlosigkeit der Tschernobylskijs und die Ahnungslosigkeit Eugenia Isakownas. Dabei verwendet Nabokov die auktoriale Perspektive: Gedanken und Gefühle der handelnden Personen werden geschildert, wenn auch recht sparsam.

Die Ahnungslosigkeit der Witwe wird durch ihre Schwerhörigkeit symbolisiert. Zu Anfang erscheint diese Schwäche wie eine Stärke: Wenn sich die Witwe nicht mit ihrer Wirtin herumstreiten möchte, schaltet sie einfach das Hörgerät ab. Auf diese Art kann sie sich auch vom Lärm der Stadt abkoppeln, hört nur, was sie hören möchte. Doch am Ende, als in ihrer Wohnung bedrücktes Schweigen und Getuschel herrschen, erscheint ihr ihre fast völlige Gehörlosigkeit wohl als Behinderung, sie wirkt hilflos, wenn sie ihr Hörgerät der Reihe nach allen Anwesenden hinhält.

Kein Mitleid

Die Geschichte ist recht kühl, manchmal fast humoristisch erzählt. Es geht Nabokov nicht darum, Mitleid für die Alte zu erwecken, sondern um die tragikomische Notwendigkeit, der Witwe die traurige Nachricht brüllend zu verkünden. Vielleicht ist dieser fast komische Schluss auch ein Ausdruck seiner Ablehnung Dostojewskijs. Der hätte die Geschichte wahrscheinlich zu einem moralischen Melodrama gemacht.

Vladimir Nabokov

Der gebürtige Russe (1899 - 1977) wurde durch den 1955 erschienenen und lange verfemten Romans "Lolita" bekannt. Nach seiner Flucht vor der Oktoberrevolution lebte er zunächst in England, dann in Berlin, floh vor den Nazis nach Paris und 1940 in die USA. Nach dem Erfolg von Lolita zog er nach Montreux, wo er bis zu seinem Tod lebte. Zuerst in russisch, später in Englisch schrieb er Romane, Kurzgeschichten, Essays und Lyrik.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Februar 2003

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