Leixoletti.de
Kurzgeschichten und Interpretationen
Startseite > Kurzgeschichten-Interpretationen > Ilse Aichinger: Die geöffnete Order

Ilse Aichinger: Die geöffnete Order

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Was geschieht, wenn ein Bote eine Nachricht überbringt, worin steht, dass er selbst getötet werden soll? Dieser Idee geht Ilse Aichinger in dieser Geschichte nach. Sie gehört neben der Spiegelgeschichte zu den bekanntesten Stories der österreichischen Autorin.

Inhaltsangabe

Eine Abteilung Soldaten hält eine vorgeschobene Stellung. Der Winter naht, die Front hat sich festgefahren und der Gegner greift nicht an. Aus Ungeduld planen einige jüngere Soldaten, ohne Befehl anzugreifen, bevor der erste Schnee fällt.

Einer von diesen Soldaten wird an einem der folgenden Tage als Bote mit einer Order ins Hauptquartier geschickt. Er kennt die Botschaft nicht. Doch er befürchtet, dass seine Mission etwas mit der Meuterei zu tun hat, die die jungen Soldaten planen.

Als man ihm im Hauptquartier strenge Fragen stellt, wächst seine Unsicherheit. Doch man schickt ihn mit einer Antwort zurück, die der Bote wiederum nicht kennt.

Auf der Rückfahrt im Auto überkommt den Boten die Neugier, und er beschließt, die Order zu öffnen. Doch zunächst bleibt der Wagen stecken. Während der Fahrer unter dem Auto liegt, um einen Defekt zu beheben, liest der Soldat die Botschaft. Sie lautet auf seine Erschießung, die Erschießung des Überbringers.

Der Soldat will nun den Fahrer, der vor ihm im Auto sitzt, töten und fliehen. Schon hat er die Pistole auf dem Schoß. Die beiden passieren die letzte Rodung vor Erreichen der Abteilung. Der Soldat hört einen Schuss und glaubt zunächst, seine Waffe wäre losgegangen. Aber ein Schuss des Feindes hat ihn getroffen. Der Bote ist verletzt und gibt die Order an seinen Fahrer weiter. Er versucht, damit sein eigenes Leben zu retten, denn nun wäre der Fahrer der Überbringer und würde hingerichtet werden.

Im Lager angekommen, wird der Bote ins Lazarett gebracht und allein gelassen. Von draußen hört er Schüsse. Der Soldat glaubt, es wäre die Erschießung des Fahrers. Er verliert das Bewusstsein.

Als der Soldat wieder zu sich kommt, beugt sich der Fahrer über ihn. Der Bote glaubt deshalb, tot zu sein und den Fahrer im Jenseits wiederzusehen. Doch dann erklären ihm der Fahrer und ein Offizier alles: Man hat geglaubt, die Order sei durch den Schuss beschädigt worden. Der Angriff des Feindes hat begonnen. Zu dem Soldaten meint er: "Ihr Glück, dass Sie den Wortlaut der Order nicht kannten. Wir hatten eine merkwürdige Chiffre für den Beginn der Aktion."

Interpretation

Aichingers Geschichte ist auf den ersten Blick eine spannende Abenteuergeschichte, die wohl im Zweiten Weltkrieg spielt. Die Story ist größtenteils in personaler Perspektive aus der Sicht des anonymen Soldaten geschrieben. Nur der Anfang ist auktorial erzählt: "Es gab unter den jüngeren Freiwilligen der Verteidigungsarmee einige, die ... sich dieser Kriegsführung nicht gewachsen fühlten." Dieser Satz entstammt wohl nicht der Sicht eines Beteiligten, sondern aus der der Autorin.

Personale Perspektive

Dass die Geschichte personal erzählt ist, ist Voraussetzung für die Spnannung, die Aichinger aufbaut: Denn diese entsteht dadurch, dass der Bote den Inhalt der Order nicht kennt, dass er nicht weiß, was auf ihn zukommt.

Spannungserzeugung

Aichinger schafft es, dass sich der Leser mit dem Soldaten identifiziert. Die Spannung steigt deshalb beim Leser parallel zu der Unruhe des Soldaten. Mit dem Öffnen der Order ist ein erster Höhepunkt erreicht. Doch wieder baut Aichinger Spannung auf: Gelingt es dem Soldaten zu entkommen? Wird er den Fahrer erschießen?

Schlusspointe im letzten Satz

Der Schuss ist der zweite Höhepunkt der Geschichte. Doch wieder steigt die Spannung, besonders, als der Soldat allein in Ungewissheit auf seinen Tod wartet. Erst mit dem letzten Satz, der als Pointe dient, wird der Hintergrund klar.

Religiöses Vokabular

Auf den zweiten Blick fallen die religiös gefärbten Wendungen und Wörter auf, die Aichinger einstreut: "Die Seele eines Selbstmörders, von Engeln getragen", "Auf den himmlischen Weiden sind die Schafe geschützt, aber die himmlischen Weiden enthüllen sich als Richtplatz.", "das Urteil, das sich an ihm erfüllte", "Erlösung", "Engel".

Der Bote ist offensichtlich religiös. Er glaubt sich am Ende im Jenseits. Er denkt, er wäre für seine Ungeduld, für seinen Willen zum Kampf bestraft worden:

Während er dalag, wich seine Auflehnung einer verzweifelten Heiterkeit. Das Verbluten schien ihm dem Entweichen durch geschlossene Türen ähnlich... Der Raum ... enthüllte sich als Zustand. Und war nicht der reinste aller Zustände Verlassenheit, und das Strömen des Blutes Aktion? Da er sie an sich nicht um der Verteidigung willen gewünscht hatte, war das Urteil, das sich an ihm erfüllte, richtig. Da er das Liegen an den Grenzen satt hatte, bedeutete es Erlösung.
Schuld und Bestrafung

Aichinger hat eine theologische und moralische Dimension in die Geschichte hineingepackt. Der Soldat erträgt das Warten in der Stellung nicht, und plant deswegen mit seinen Kameraden einen Angriff, einen Mord. Zufällig wird dies durch seinen Botenauftrag verhindert. Der Soldate erträgt die Ungewissheit seines Schicksals nicht. Deshalb öffnet er die Order und plant noch einen Mord, den an dem Fahrer. Zufällig trifft ihn ein Schuss und verhindert den Mord.

Büchse der Pandora

Die Aktion, die der Protagonist herbeisehnt, trifft ihn schließlich selbst. Die Order, die der Soldat öffnet, entpuppt sich als Büchse der Pandora. Der Protagonist glaubt, durch die Kenntnis der Order einen Vorteil zu haben. Er glaubt, sein Schicksal zu kennen. Aber wenn ihm der Zufall nicht zu Hilfe gekommen wäre, wenn er nicht angeschossen worden wäre, wäre dieses Wissen sein Nachteil gewesen: Er hätte den Fahrer erschossen - mit gefährlichen Folgen.

Kein Schicksal

Als Aussage der Geschichte könnte man die Ansicht betrachten, dass die Zukunft nicht determiniert ist – auch wenn man glaubt zu wissen, was einem bestimmt ist. Der Protagonist meint, seine Zukunft zu kennen, glaubt zum Tode verurteilt zu sein, aber er ist im Irrtum. Seine Zukunft ist nicht determiniert durch die Order. Über ihn ist nichts verfügt. Er ist frei.

Schwieriger Spagat

Die Aussage der Geschichte ist nicht leicht zu entdecken. Etwas störend wirken die altklug-theoretischen, manchmal philosophischen Einschübe, die die Autorin macht, und die nicht so recht zu der jugendlichen Perspektivfigur – dem Soldaten – passen wollen, und nicht zu einer personal erzählten Abenteuergeschichte. Vielleicht hätte Aichinger auf den Spagat zwischen Spannung und Anspruch verzichten und sich für eines von beiden entscheiden sollen...

Ilse Aichinger

Die Österreicherin Ilse Aichinger, geboren 1921, schreibt Gedichte, Kurzprosa (Eliza Eliza, 1965, Schlechte Wörter, 1976, Meine Sprache und ich, 1978), Hörspiele und Romane.

Als Erzählerin versucht sie, "die moderne Schreibweise einer parabolischen Vermittlung der Wahrheit in der legitimen Nachfolge Franz Kafkas auszubauen. Dabei verzichtet sie auf den Gebrauch der Stilmittel des Surrealismus, der absurden Phantasmagorie oder der ironischen Distanz." (W. Huder in "Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", dtv, 1990).

Sie interessiert sich vor allem für die Grundprobleme der menschlichen Existenz, wobei sie von Sartre beeinflusst ist. Sie war mit Günter Eich (gestorben 1972) verheiratet. 1952 erhielt sie den Preis der Gruppe 47 für ihre Erzählung "Spiegelgeschichte"

Bibliographisches

Letzte Änderung: Mai 2003

http://www.leixoletti.de

E-Mail: webmaster@leixoletti.de

© Stefan Leichsenring. Alle Rechte vorbehalten.