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Shirley Jackson: Die Lotterie

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die bekannteste Geschichte einer im deutschen Sprachraum immer noch viel zu unbekannten Autorin: Gesellschaftskritisch, genial erzählt und mit überraschender Pointe.

Inhaltsangabe

An einem 27. Juni treffen sich die Einwohner eines 300-Seelen-Dorfes, um die alljährliche Lotterie abzuhalten. Diese Tradition wird in diesem Dorf und in den Nachbargemeinden seit Menschengedenken aufrechterhalten. Mit marginalen Änderungen findet die Lotterie seit der Besiedlung in unveränderter Form statt.

Man beginnt mit dem Verlesen der Familiennamen. Jedes Familienoberhaupt zieht einen Zettel, und das Los fällt auf Bill Hutchinson. Dann müssen alle Mitglieder der Familie Hutchinson ziehen. Tessie, die Frau von Bill Hutchinson, zieht den Zettel mit dem schwarzen Punkt. Die Dorfbewohner greifen nach den bereitgelegten Steinen und beginnen damit, Tessie zu Tode zu steinigen.

Interpretation

Die makabre Geschichte beginnt mit der Schilderung eines schönen Frühsommertags. Die Leute sind ganz normale Leute, die Kinder freuen sich über die Schulferien, die gerade begonnen haben, ihre Eltern unterhalten sich über das Wetter, Traktoren und Steuern. Alles ist völlig normal und vertraut. Allmählich aber wird dem Leser immer klarer, dass es bei dieser Lotterie nichts zu gewinnen gibt. Ganz am Schluss erkennt er, dass es um einen gemeinschaftlichen Mord an einem Unschuldigen geht.

Einmal im Jahr lassen die scheinbar so freundlichen Menschen die Idylle hinter sich und tun sich zum gemeinschaftlichen Ritualmord an einem zufällig bestimmten Gemeindemitglied zusammen. Ein wenig erinnert das an Märchen, bei denen regelmäßig ein Dorfbewohner ausgelost wird, der einem Drachen oder einer blutrünstigen Gottheit geopfert werden muss. Auf diese Weise wird der Drache oder der Gott  davon abgehalten, die ganze Stadt zu vernichten. In "Die Lotterie" steckt der Drache sozusagen in den Menschen selbst, es ist das blutrünstig Bestialische in jedem einzelnen. Es steckt tief verborgen in den Leuten und wird nur einmal im Jahr offenbar. Diese ritualisierte Tradition bewahrt die Gesellschaft vor dem Zerfall - oder zumindest glauben das die Menschen im Dorf. Homo homini lupus, aber durch die Zivilisation wird das Tier im Menschen für ein Jahr gebändigt, die Aggressionen werden kanalisiert.

Die Lotterie, das zufällige Auswahlverfahren für den Mord, ist Jacksons Bild für die Beliebigkeit, mit der in realen Gesellschaften der Sündenbock bestimmt wird. Hautfarbe, Nationalität, Religion usw. sind in unserer Welt die Auswahlkriterien, nach denen festgelegt wird, wer gerade schuld ist am Zustand der Welt, wer verprügelt, gequält oder vernichtet werden muss. Wenn Kinder ihre brillentragenden Mitschüler verprügeln, wenn Juden in der Diaspora verfolgt oder Homosexuelle drangsaliert werden, dann hat der Sündenbock-Mechanismus funktioniert.

In der Realität werden meist Minderheiten zu Sündenböcken bestimmt, weil sich dann die Mehrheit  sicher fühlen kann. Bei Shirley Jackson aber kann es jeden treffen. Ist das nun eine unrealistische, aber erhellende Übertreibung der Autorin? Man kann sich das mit Recht fragen. Denn wenn das Opfer völlig zufällig ausgewählt wird, dann würde sich die Lotterie in einer wirklichen Gesellschaft wohl nicht lange halten. Wenn man Angst um das eigene Leben haben muss, dann macht so eine Lotterie eigentlich nicht richtig Spaß ;-) Die Lotterie würde sich solange halten, wie die eigene Mordlust stärker als die Angst um das eigene Leben ist.

In der Kurzgeschichte gibt es jedoch einzelne Bürger, die für die Abschaffung der Lotterie sind. In einigen Nachbargemeinden sind ebensolche Tendenzen da. Aber die Alten setzen sich (noch?) durch. Für den alten Warner z.B. wäre die Abschaffung der Lotterie gleichbedeutend mit der Rückkehr zur Barbarei: "Als nächstes wollen sie womöglich wieder in Höhlen leben." Hier blinzelt die Autorin, und ihr schwarzer Humor bricht hervor. Abgesehen davon aber zeigt es, dass die Autorin unseren Einwand vorhergesehen hat: Es regt sich Unmut über die Lotterie, und eine Abschaffung erscheint für die Zukunft möglich.

Shirley Jacksons Parabel über die Gewalt in der Gesellschaft hält Rassisten und Nationalisten den Spiegel vor. Sie zeigt, dass das Tier im Menschen durch die Zivilisation nicht besiegt wird, sondern in uns allen schlummert. Wenn es die Gesellschaft  erlaubt, wenn es toleriert wird, dann lassen wir alle "die Sau raus". Ein solcher Anlass kann ein Pogrom sein, ein Krieg oder ein Bürgerkrieg.

Weiterführende Links

- Die unbekannte amerikanische Größe: Artikel zu Shirley Jackson

Bibliographisches

Letzte Änderung: Juni 2002

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