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James Joyce: Die Toten

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die letzte Geschichte aus Joyces Geschichtensammlung "Dubliner": Schwer zu lesen, schwer zu verstehen. Ein Annäherungsversuch.

Inhaltsangabe

Gabriel Conroy und seine Frau Gretta besuchen den jährlichen Ball der Schwestern Morkan, den seine beiden alten Tanten, Kate und Julia Morkan, veranstalten. Die Gastgeberinnen spielen Klavier und singen, dann wird getanzt und schließlich gegessen. Danach hält Gabriel eine Rede zur Ehre der Schwestern Morkan.

Gabriel bringt seine Frau nach dem Fest in ein Hotel, und fragt sie nach dem Grund für ihre apathische Stimmung. Sie erzählt ihm von dem schwer kranken Furley, der für sie starb. Gabriel ist eifersüchtig auf den anderen Mann, von dessen Bedeutung in Grettas früherem Leben er nichts ahnte. Gabriel erkennt, wie klein seine eigene Bedeutung für Gretta ist. Er erkennt den Unterschied zwischen dem allmählichen Zerfall, der bei den Schwestern Morkan am Werk ist, die schon bald sterben werden, und dem heroischen, leidenschaftlichen Tod von Furley.

Interpretation

Stellung der Geschichte innerhalb von "Dubliner"

"Die Toten" ist die letzte Geschichte aus dem Zyklus "Dubliner", der Themen rund um den Tod behandelt. In "Die Schwestern", der ersten Geschichte, geht es um einen Jungen, dessen alter Freund, ein paralytischer Geistlicher stirbt, was ihn zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert. Die Frauen in "Eveline" und "Clay" werden vom Tod verfolgt: Eveline durch die Erinnerung an ihre Mutter, und Maria durch das Omen ihres eigenen Todes. "A Painful Case" ist die Geschichte des tragischen Todes einer zurückgewiesenen Frau. Eine tote politische Figur ist die Basis für "Ivy Day in the Committee Room."

"Die Toten" als Slice-of-Life-Geschichte 

"Die Toten" ist eine Geschichte aus dem Alltag, eine Slice-of-Life-Geschichte. Die äußere Handlung ist mehr oder weniger alltäglich und banal. Und doch wird ein Wendepunkt in Gabriels Leben beschrieben. Eine Zusammenfassung der äußeren Handlung von "Die Toten" alleine wird der Geschichte nicht gerecht. Es geht vor allem um die Ideen und geistigen Vorgänge in den Hauptpersonen, vor allem die von Gabriel und seiner Frau. Die Bedeutung der Geschichte erschließt sich dem Leser vom Ende her, wo Gabriel und der Leser sich über die Bedeutung der seltsamen Stimmung von Gretta klar werden.

Beim ersten Lesen wird die lange Beschreibung der Vorgänge beim Ball der Geschwister Morkan erst im Nachhinein, auf den letzten Seiten, verständlich. Beim Wiederlesen entdeckt man schon vor der Szene im Hotel Details, die auf das Thema der Geschichte hinweisen und sich in Beziehung dazu setzen lassen.

Symbolik in "Die Toten"

Eine zentrale Bedeutung nimmt die Musik in der Geschichte ein. Die beiden Schwestern, Julia und Kate und ihre Nichte Mary Jane sind alle Musiker. Mr. Bartell d'Arcy ist Tenor. Es wird gesungen, Klavier gespielt und getanzt. Mary Jane spielt ihr Akademiestück, ein technisch schwieriges Klavierstück, das Gabriel und den anderen Gästen unmelodisch erscheint. Danach begleitet sie Julia, die "Bräutlich geschmückt" singt, wahrscheinlich eine Adaption des Hochzeitschors aus Wagners "Fliegendem Holländer". Die Gäste sind begeistert, Julia hat wohl viel Emotion hineingelegt. Die Sehsucht nach Liebe, das Thema der Wagner-Oper, ist für die alte Jungfer nicht in Erfüllung gegangen, ein Rest davon ist aber erhalten geblieben und wird in ihrem Gesang wieder lebendig. Die Beziehung der Musik und Leben wird deutlich.

Sinn des Lebens

Kate sagt, Julia hätte ihre schöne Stimme für den Kirchenchor verschwendet. Julia hat sich für den Chor "Tag und Nacht abgerackert" . "Wozu das alles", fragt Kate, und meint vielleicht nicht nur die Verschwendung der musikalischen Begabung ihrer Schwester, sondern ihr gesamtes Leben. "Nun, doch wohl zur Ehre Gottes" - ist das der Sinn des Lebens? Kate hat ihre Zweifel. "Wahrscheinlich ist es zum Besten der Kirche."

Beim Abendessen wird über Sänger diskutiert. Die älteren, wie Mr. Browne und Kate, schwärmen von den alten Zeiten: "Das waren Zeiten, wo man in Dublin noch richtigen Gesang hören konnte". Der junge Bartell d'Arcy widerspricht, Caruso sei genauso gut oder besser. Die alte Generation lebt in der Vergangenheit, in ihren Augen hält die Gegenwart dem Vergleich mit den alten Zeiten nicht stand.

Thema Tod

Das Gespräch schwenkt dann um auf die Mönche vom Mount Melleray, die in ihren Särgen schlafen: "Der Sarg soll sie an ihre letzte Stunde gemahnen." Das Thema Tod ist damit angesprochen, und betretenes Schweigen tritt ein.

Nach dem Essen hält Gabriel seine Tischrede. Die Themen Musik, Vergangenheit, Erinnerung werden wieder aufgegriffen. Als er "heute abend die Namen all jener großen Sänger der Vergangenheit hörte", da kam ihm die heutige Zeit ärmer vor. Er habe aber die Hoffnung, "dass wir im Herzen weiterhin das Gedächtnis an jene toten und von uns gegangenen Großen bewahren". Es ist eine Totenbeschwörung, die Gabriel hier versucht. Er spricht von "Gedanken an die Vergangenheit, an die Jugend, an Veränderungen, an abwesende Gesichter, die wir heute abend hier vermissen. Unser Lebensweg ist mit vielen solch traurigen Erinnerungen übersät: und grübelten wir ständig über sie nach, so fänden wir das Herz nicht, unerschrocken unter den Lebenden weiter zu wirken."

Das Leben als Mühle

Ein weiteres Bild für das Leben findet sich in der Erzählung von Johnny, dem Pferd von Gabriels Großvater. "Und Johnny arbeitete in der Mühle des Alten Herrn und lief immer im Kreis herum, um die Mühle zu treiben." Eines Tages aber spannt der Mühlenbesitzer an, um zu einer Militärparade der "vornehmen Welt" zu fahren. Alles verläuft glatt, aber als sie an einem Denkmal vorbeikommen, beginnt das Pferd darum herum im Kreise zu laufen, als wäre es wieder in der Mühle. Hier wird das Leben als Abrackern in des Alten Herrn Mühle, also in Gottes Mühle, versinnbildlicht. Ein Entkommen aus dem Alltag scheint unmöglich.

Von besonderer Bedeutung ist das Lied "Die Dirn von Aughrim", das Bartell d'Arcy am Schluss singt. Gedankenverloren hört Gretta das Lied. Gabriel beobachtet sie dabei: "In ihrer Haltung lagen Anmut und Geheimnis, als sei sie ein Symbol für irgend etwas." Er überlegt und findet den Begriff "Ferne Musik". Die Musik erinnert Gretta an vergangene Zeiten. Musik ist in der Geschichte "Die Toten" ein Symbol für das Leben, und Erinnerung ist wie das Lauschen auf ferne Musik.

Stumpfes, gemeinsames Leben

Bei der Fahrt ins Hotel sind Gabriels Gedanken bei der Vergangenheit. Er erinnert sich an "Augenblicke der Ekstase", an einige glückliche Momente in ihrem "stumpfen gemeinsamen Leben". "Wie ferne Musik" kommen ihm die Worte in einem Liebesbrief vor, den er vor Jahren an Gretta geschrieben hatte.

Als die beiden im Hotel endlich allein sind, finden die Ereignisse des Abends ihren Widerhall in Grettas Psyche. Zweimal ist Gretta an ihre ehemalige Liebe Michael Furey erinnert worden: Zuerst läd Miss Ivory Gretta und Gabriel nach Galway ein, wo Gretta ihre Affaire mit Furley hatte. Dann hatte Mr. D'Arcy das Lied "Die Dirn von Aughrim" gesungen, dasselbe Lied, das Furley einst für sie sang. Die Gespräche über das Leben, und die Totenbeschwörung in Gabriels Tischrede haben sie wohl ebenfalls berührt.

Aufbrechen der Gefühle und Epiphanie

Nun brechen Grettas Gefühle auf. Sie erzählt Gabriel von dem kranken Furey. Bei Gabriel löst "die Beschwörung dieser Gestalt von den Toten" einen Moment der klaren Selbsterkenntnis aus: "Scham über sich selbst überfiel ihn. Er sah sich als eine lächerliche Gestalt, (...) einen nervösen, wohlmeinenden Sentimentalen." Er wird sich klar, "eine wie armselige Rolle er, ihr Mann, in ihrem Leben gespielt hatte." Er wird sich klar, dass sie jetzt nicht mehr die Frau war, für die Furey gestorben war, dass ihre einstige Schönheit durch ihr "stumpfes gemeinsames Leben" verschwunden war. Wie in den übrigen Dubliner-Geschichten ist der von Joyce als "Epiphanie" bezeichnete Moment der klaren Selbsterkenntnis kein erhebendes Erlebnis. Doch die "Epiphanie" ist es, was Joyce zum Thema all seiner Geschichten aus dem Erzählband macht.

Schlaf und Tod

Er wird sich klar, dass seine Tante Julia ebenfalls bald sterben wird, "bald ein Schatten mit dem Schatten Patrick Morkans und seines Pferds". "Einer nach dem anderen wurden sie alle zu Schatten." "Seine Seele hatte sich jener Region genähert, wo die unermesslichen Heerscharen der Toten ihre Wohnung haben." Er hat die Toten beschworen, und deshalb hört er sogar den verstorbenen Furey an die Scheiben pochen: ein Besuch in der Unterwelt. Die naheliegende Parallele zur Orpheus' Besuch dort passt aber nicht: Gabriel ist schließlich kein Musiker. In den letzten Sätzen wird auf das Geschwisterpaar Schlaf und Tod angespielt: "Langsam schwand seine Seele", Gabriel schläft ein, während er den Schnee still durch das All fallen hörte, fallen "auf alle Lebenden und Toten."

James Joyce

Der Ire Joyce, geboren 1882, gehört mit seinem Erzählband Dubliner und seinen Romanen Ulysses und Finnegans Wake zu den wichtigsten Vätern der modernen Literatur.

Die Erzähltechnik des "stream of consciousness" ist eng mit seinem Namen verbunden. 1904 verließ er Irland für immer. In Frankreich, Italien und der Schweiz lebte er als Privatlehrer und Journalist. 1941 starb er völlig erblindet in Zürich.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Februar 2003

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