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A. L. Kennedy: Ein makelloser Mann

- Inhaltsangabe und Interpretation -

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Eine Geschichte der gefeierten schottischen Autorin über einen Schwulen, der erst als gestandener Mann seine Sexualität entdeckt: Ein anrüchiges Thema, viel Dramatik und schöne Sprache.

 

Inhaltsangabe

Der Anwalt Mr. Howie vertritt eine gerade geschiedene Mutter bei einem Sorgerechtsprozess. Er befragt das zehnjährige Mädchen, ob es wirklich bei der Mutter und nicht beim Vater bleiben will. Sie sagt ja. Howie geht auf die Toilette. Beim Pinkeln umklammert ihn plötzlich sein Chef Brian Salter von hinten, presst sich an ihn und flüstert Howies Namen. Howie ist verwirrt, genießt es jedoch. Salter verschwindet genauso plötzlich wie er gekommen ist. Howie kehrt zu seinen Klienten zurück, verabschiedet sie und geht dann in sein Büro.

Howie ist homosexuell, hat ein Coming-out aber immer vermieden und wusste auch nicht, dass Salter schwul ist. An den folgenden Tagen tauschen Howie und Salter heimlich Berührungen und Blicke aus. Howie macht Überstunden, lässt die Bürotür einen Spalt offen und hofft, dasss Salter zu ihm kommt. Er stellt sich vor, wie sie auf der Firmentoilette miteinander Sex haben könnten, ohne dass es jemand merkt.

Eines Tages erfährt Howie von der Sekretärin Mrs. Carstairs auf seine Frage, dass Salter verheiratet ist und einen Sohn hat. Das macht Howie so verzweifelt, dass er sich für eine Weile krank schreiben lässt. Als er wieder in die Firma kommt, meidet er die Blicke von Salter. Doch dann fordert ihn sein Chef auf, in ein Pub zu einer Firmenparty zu kommen. Howie verspricht es und bekommt zum Dank einen Zungenkuss. Er verflucht sich, ist erneut verzweifelt.

Im Pub sagt ihm Salter, er habe noch ein geschäftliches Gespräch, aber Howie solle nicht gehen. Howie will einerseits eine Beziehung zu Salter, kalkuliert sogar ein, dass Salters Ehe darüber zerbricht, andererseits befürchtet er, von Salter erneut verletzt zu werden. Schließlich will Howie die Party verlassen, aber da kommt die Sekretärin und bittet ihn zu Salter. Howie und Salter teilen sich ein Taxi, fahren zu Howie nach Hause.

Interpretation

Die Geschichte beginnt mit einer Szene, die der Leser zunächst nicht versteht:

"Ja." Ein heißes kleines Wort, leicht verärgert, sehr solide, sehr so gemeint. "Ja."
Mehr sagte sie nicht.

Nach diesem Anfang denkt man wohl: Hier spricht eine Frau, die auf eine ziemlich verfängliche Frage eines Mannes geantwortet hat. Doch im nächsten Absatz erfahren wir, dass die Dame erst zehn ist, und dass sie mit ihrer Mutter vor dem hier noch namenlosen, aber männlichen Protagonisten steht. Erst allmählich wird klar, dass es sich um Mr. Howie handelt, und dass er als Anwalt die Mutter bei einem Sorgerechtsprozess vertritt. Die eigentliche Story beginnt auf der Toilette. Howie steht am Pissoir, Salter ist hereingekommen, und dann passiert es:

Howies Hals fühlte sich komisch an, er kribbelte ein bisschen.
Bevor sich dann plötzlich ein Druck schwer auf seine Brust legte und er an sich herunterschaute und halb erwartete, Blut oder etwas ähnlich Schreckliches und Lächerliches zu entdecken. Um seine Rippen schloss sich eine beengende Klammer.
Scheiße. O nein. Ach du Scheiße!
Die Arme eines Mannes hielten ihn fest, die Hände waren über seinem Brustbein verschränkt. Und er konnte auch sehen, wo seine eigenen Hände ungeschickt festgehalten wurden, eine von ihnen hielt seinen Schwanz, während er pinkelte (...)

Die Reaktion von Howie: Bitte. Das darfst du nicht. Du meinst es nicht so, wie ich es mir wünsche.

Späte Entfaltung der Sexualität

Erst die offensive Berührung durch Salter lässt Howies Sexualität erwachen und stürzt ihn in eine tiefe Ratlosigkeit. Howie ziert sich, schwankt zwischen sexuellem Verlangen und Angst wie eine sexuell unerfahrene junge Frau – dabei ist er schon recht alt. Der englische Originaltitel "An Immaculate Man" erinnert an Jungfräulichkeit und die unbefleckte Empfängnis Marias und bezieht sich wohl auf Howie. Der hat immer die makellose Fassade aufrecht erhalten, ein Coming-out vermieden und keine sexuellen Kontakte zu Männern gehabt.

Die Geschichte ist spannend erzählt; als Leser fragt man sich: Hat Salter ernsthafte Absichten, oder macht er sich einen Spaß? Tut er nur so, als wäre er schwul? Wird er vielleicht irgendwann das Geheimnis von Howie den anderen Mitarbeitern eröffnen? Doch die Befürchtungen des Lesers sind unbegründet.

Happy End

Am Schluss ist zumindest die Sekretärin wohl im Bilde über die sexuellen Neigungen zwischen Salter und Howie, obwohl sie es nicht ganz klar ausdrückt:

"Sie wollten doch früher gehen. Brian - Mr. Salter - will auch früher gehen. Sie können sich ein Taxi teilen. Deswegen habe ich Sie ..." Sie ließ ihre Erklärung versickern. "Sie wissen schon. Sie werden sich schon einigen." Howie bemerkte, dass sie ziemlich betrunken war.

Diese Passage legt nahe, dass die Sekretärin einige Geheimnisse von Salter kennt, dass Salter sie als Postillon d'Amour eingesetzt hat, damit ihr gemeinsames Weggehen nicht so auffällt. Die Geschichte endet mit den gleichen Worten, mit denen sie angefangen hat, diesmal aber haben sie die anfangs vermutete Bedeutung:

Salter schlang den Arm um seine Schulter.
Ich kann nicht. (...)
"Wir gehen raus und suchen uns ein Taxi. Bringen dich nach Hause."
"Ich -"
Bitte.
"Das willst du doch, oder? Nach Hause?"
Sag es ihm jetzt, sag's ihm. Lass es nicht weh tun, lass es aufhören. Du musst aufhören.
"Das willst du doch, oder?"
Nein. Nein. Nein.
"Oder?"
"Ja." Ein heißes kleines Wort.

Dieser Schluss führt an den Anfang zurück. Erst jetzt versteht der Leser, warum Kennedy die Szene mit dem kleinen Mädchen an den Anfang gestellt hat.

Personale Perspektive mit kursiv gesetzten Gedanken

Die Geschichte ist personal aus der Sicht von Howie erzählt. Seine Gedanken werden als Innerer Monolog wiedergegeben, der kursiv gekennzeichnet wird. Erzählt wird im epischen Präteritum. All das erinnert an Trivialromane, zum Beispiel die von Stephen King. Was aber weit darüber hinaus geht und sehr angenehm auffällt, ist die stellenweise recht lyrische Sprache: Ja ist "ein heißes kleines Wort", "die beiden zogen sich auf der Flucht an; aus Koffern und aus Verzweiflung" und so fort. Dem sensiblen, akademisch gebildeten Howie traut man diese Sprache auch zu. Kennedy wahrt das Gleichgewicht zwischen diesen lyrischen Bildern und der Dramatik, denn die Story hat durchaus genug Action.

Aus Autorensicht

Mir gefällt an dieser Geschichte vor allem, wie Kennedy die Szene im Pissoir gestaltet hat: eine starke, mit heftigen Emotionen geladene Stelle. Außerdem beeindruckt mich, dass es Kennedy schafft, eine schöne, stellenweise lyrische Prosa zu schreiben, die trotzdem als Rollenprosa - das heißt als die Sprache der Perspektivfigur Howie - durchgeht. Dass Kennedy so spät mit ihrem Thema herausrückt, empfinde ich als Schwäche der Story, auch wenn der Grund dafür am Ende klar wird. Mir kommt die Parallele zu dem kleinen Mädchen etwas weit hergeholt vor. Die Thematik berührt mich persönlich eher etwas unangenehm; dazu trägt auch die manchmal sehr direkte Sprache Kennedys (zum Beispiel "Schwanz") bei.

Alison L. Kennedy

Die 1965 geborene Schottin Kennedy studierte bis 1986 Theaterwissenschaften. 1991 feierte Kennedy ihr Debüt mit der Kurzgeschichtensammlung "Night Geometry And The Garscadden Trains". Es folgten 1993 der Roman "Looking for the Possible Dance" (Einladung zum Tanz, 2001), 1995 der Roman "So I Am Glad" (Also bin ich froh, 2004), "Everything You Need" (Alles Was Du Brauchst, 2002), "Hat nichts zu tun mit Liebe" (2003), "Original Bliss" (Gleißendes Glück, 2000), "Paradise" (Paradies, 2004). Für ihre Erzählungen und Romane erhielt sie von den Feuilletons viel Lob.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Mai 2005

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