Kurt Marti: Happy End
- Inhaltsangabe und Interpretation -
Schüler dürfen sich freuen: Eine Interpretation der sehr effektiv erzählten Kürzestgeschichte.
Im ersten Weltkrieg soll eine Soldatenzeitung aus Lille einen Preis für eine Kurzgeschichte ausgeschrieben, die nicht mehr als dreihundert Wörter haben sollte. Die preisgekrönte Geschichte lautete (nach Otto Schumann) etwa so:
Als Latrine haben wir eine große Grube. An ihrem Rand sind zwei Pfosten in die Erde geschlagen und mit einer Querstange verbunden. Eines Abends sägten wir die Pfosten an.
Das sind neunundzwanzig Wörter. Die übrigen zweihunderteinundsiebzig sprach der Feldwebel, als er in die Grube gefallen war.
Eine lustige Antwort auf die Frage, wie lang eine Kurzgeschichte sein muss. Eine etwas ernstere Form von Kürzestgeschichten schrieb der Schweizer Kurt Marti. "Happy End" ist ein Beispiel.
Inhaltsangabe
Ein Ehepaar, das sich zusammen einen Liebesfilm angesehen hat, verlässt das Kino. Der Mann läuft zornig davon; er ärgert sich über seine Frau, die im Film geweint hat. Als die Frau ihn endlich einholt, muss sie sich seine Vorwürfe anhören. Sie macht nur einen zaghaften Rechtfertigungsversuch. Er nennt sie in seinen Gedanken eine blöde Gans, sie ihn einen Klotz von Mann.
Interpretation
"Sie umarmen sich, und alles ist wieder gut": Der Anfang der Geschichte lässt den Leser im Unklaren über den Ort der Handlung und die Personen. Erst im dritten Satz wird klar, dass die Schlussszene eines Film widergegeben wurde: "Das Kino ist aus".
Der erste Satz erklärt den Titel "Happy End" und kommentiert zugleich den Film aus der Sicht des (auktorialen) Erzählers: Es handelt sich um eine triviale Romanze im Stil von Hollywood. Dazu in Kontrast steht das Verhalten der beiden Eheleute: Die Geschichte endet, anders als der Film, mit einem Streit.
Nur 200 Wörter
Mit rund 200 Wörtern ist "Happy End" eine sehr kurze Kurzgeschichte. Sie schildert eine Szene auf der Straße, die nicht länger als ein paar Minuten dauert. Auf diesem knappen Raum schafft es Marti, die Personen und ihre Beziehung zueinander zu charakterisieren. Es handelt sich um eine Slice-of-life-Geschichte, einen Ausschnitt aus dem alltäglichen Leben der beiden Personen. Die Personen werden nicht benannt. Sie sind austauschbar. Marti zeigt den Ehealltag von Millionen von Menschen. Es geht um die Gegenwart, und daher ist die ganze Geschichte im Präsens erzählt.
Dominanz des Mannes
Der Mann dominiert in dieser Ehe. Er führt das Wort, herrscht sein "Weib" an, ist sehr grob zu ihr. Die Frau gibt klein bei. Ihr Rechtfertigungsversuch ist halbherzig und gibt ihre Fehlverhalten sogar zu: "Ich kann doch nichts dafür." Am Schluss der Geschichte bezeichnet sie ihren Gatten als einen (groben) Klotz von Mann. Darin zeigt sich, dass sie durch seine Grobheit zwar verletzt ist, sie aber irgendwie auch anziehend findet.
Die unterschiedliche Reaktion der beiden Personen auf den Film ist Auslöser des Streits, seine Ursachen liegen tiefer.
Rührende Traumwelt
Die Frau rührt die Traumwelt, die der Film aufbaut. Vielleicht vergleicht sie unwillkürlich die Filmliebe mit ihrer eigenen Ehe - das Resultat des Vergleichs ist bitter: Aus ihrer Ehe ist die Romantik verschwunden. Die Träume, das Ideal einer Liebe, wie sie im Film gezeigt wurde, sind verschwunden im Ehealltag, in Streitereien und Beherrschung/Unterwerfung.
Mann: Distanz
Der Mann lehnt den Film als "Liebesgewinsel" ab. Wahrscheinlich ist auch ihm aufgefallen, dass ihre Ehe in nichts mehr der romantischen Liebe gleicht, die der Film zeigt. Er will daher nichts mehr von diesen romantischen Vorstellungen wissen. Deshalb flüchtet er nach dem Film, versucht sich auch räumlich Distanz zu schaffen. Besonders ärgert ihn aber die Reaktion seiner Frau. Sie ist ihm peinlich, denn sie zeigt, dass die Frau diese romantischen Ansichten nicht aufgegeben hat.
Kurt Marti
"Happy End" ist mit 200 Wörtern wohl eine der kürzesten Kurzgeschichten. Sie wird gerade in der Schule des öfteren gelesen.
Ihr Autor, der Schweizer Marti (geboren 1921), ist geprägt vom christlichen Glauben und seinem politischen Engagement. Marti schrieb erfolgreiche schweizerische Mundartgedichte und andere Lyrik. Innovativ waren seine Dorfgeschichten (1960).
Bibliographisches
- Die Geschichte stammt aus "Dorfgeschichten", 1960
- Benutzte Literatur: Rainer Könecke: Interpretationshilfen deutsche Kurzgeschichten 1945-1968. Stuttgart: Klett 1995 (ISBN 3-12-922606-0)
- Otto Schumann: Grundlagen und Techniken der Schreibkunst, Noetzel Verlag, 1995, S. 44
Letzte Änderung: Juni 2005
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