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Thomas Bernhard:
Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Man muss den eigenwilligen Stil des 1989 verstorbenen, österreichischen Griesgrams kennen. Aber Vorsicht. Denn man kann süchtig danach werden.

Meine erste Begegnung mit der Prosa von Thomas Bernhard war der Roman "Frost". Es war ein Erlebnis, das Spuren hinterließ. Für zwei Wochen konnte ich nicht mehr anders denken als in der Sprache Bernhards oder meiner Version davon. Seine gehässigen Superlative bin ich so bald nicht mehr losgeworden. Über seinen Tod hinaus und bis heute polarisiert Bernhard nicht nur seine Heimat &Ouuml;sterreich, gegen das sich viele seiner Tiraden richteten, sondern auch Literaturinteressierte. Sein Stil ist leicht zu erkennen und unvergesslich. Wer ihn noch nicht kennt, kann durch die Lektüre der Geschichte "Ist es eine Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?" eine Kostprobe nehmen.

Inhaltsangabe

Die Geschichte schildert eine Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler, einem Medizinstudenten, und einem seltsamen Fremden in der Innenstadt von Wien. Obwohl der Student eigentlich endlich sein Examen schaffen müsste, verfolgt ihn sein manischer Hass auf das Theater:

Ich bin acht oder zehn Wochen nicht mehr ins Theater gegangen, sagte ich mir, und ich weiß, warum ich nicht mehr ins Theater gegangen bin, ich verachte das Theater, ich hasse die Schauspieler, das Theater ist eine einzige perfide Ungezogenheit, eine ungezogene Perfifie, und plötzlich soll ich wieder ins Theater gehen? In ein Schauspiel? Was heißt das?

Er will eine Studie über das Theater, eine Abrechnung schreiben. Trotz dieses Hasses hat er sich eine Theaterkarte für den Abend gekauft. Er verlässt sein Zimmer und macht sich trotz seiner Gewissensbisse auf den Weg zum Theater. Er setzt sich im Volksgarten, einem Park, auf eine Bank. Von dort beobachtet er, wie die Leute ins Theater gehen. Er beschließt, doch nicht hineinzugehen.

Der Mann mit den Frauenhalbschuhen

Als er gerade wieder gehen will, fragt ihn ein Fremder nach der Uhrzeit, weil dieser angeblich seine Uhr verloren habe. Der Mann trägt Frauenhalbschuhe und sagt, er wäre an diesem Tag elf Stunden lang "in einem einzigen Gedanken" herumgelaufen. Der Fremde fragt, was gespielt würde, will aber die Antwort nicht hören.

"Gehen wir bis vor das Parlament und wieder zurück." Zusammen gehen sie zum Parlament, dann wieder zurück in den Volksgarten, dann zur Hofburg, wieder zurück zum Theater und dann gehen sie dieselbe Strecke nochmal. Unterwegs unterhalten sich die beiden, eigentlich spricht aber nur der Fremde.

"Die Welt ist ein Zuchthaus!"

Der Mann sagt, ein Geschehnis, das lange Zeit zurückliege, wäre der Grund, warum er jeden Abend im Volksgarten sei, wo er öfter junge Männer anspreche. Die Welt sei übrigens eine "durch und durch juristische, eine einzige Jurisprudenz." Der Fremde behauptet, es müsse möglich sein, durch genaues Studium seines Gesprächspartners herauszufinden, ob eine Komödie oder eine Tragödie gespielt werde.

"Am Donaukanal müssen Sie zurückgehen."

Schließlich begleitet ihn der Student auf dem Nachhauseweg. Der Fremde sagt, er hause in der Wohnung seiner Eltern, die vor sechs Wochen Selbstmord begangen hätten. Als sie aber am Donaukanal angekommen sind, sagt er, er habe "sie" dort blitzschnell hineingestoßen, und zwar vor 22 Jahren. Es seien "ihre" Kleider - wohl die seiner Mutter -, die er trägt. "Und wenn Sie glauben, dass es in den Strafanstalten ein Vergnügen ist, so irren Sie sich! Die ganze Welt ist ein Zuchthaus." Und heute abend werde "eine Komödie gespielt. Tatsächlich eine Komödie."

Interpretation

Bernhards Geschichte ist keine Handlungsgeschichte, sondern eine Dialoggeschichte oder eigentlich eine Monologgeschichte, sie erzählt von einem Zuhörer - dem Studenten. Dieser Zuhörer ist paradoxerweise auch der Erzähler der Geschichte. Der Zuhörer ist nicht zufällig Student: Er ist der jüngere und erhält von dem älteren Fremden eine Lektion - wie im Bildungsroman.

Das Geheimnis des Fremden

Die Geschichte wird erst bei den letzten Sätzen klar; erst dann erfährt der Student - und der Leser - die Lebensgeschichte des Fremden: Der 50- bis 55-jährige hat vor 22 Jahren, also als er etwa so alt war wie der Student, seine Mutter - wahrscheinlich auch seinen Vater - umgebracht, war dann im Gefängnis, und erfährt nun, nach seiner Entlassung die gesamte Welt als Fortsetzung der Gefängnisstrafe.

Er erlegt sich Bußen auf wie seine endlosen Wanderungen und schlüpft in die Kleider (Rolle) seines Opfers. Vielleicht geht er sogar denselben Weg wie in der Mordnacht: Vom Theater zum Tatort. Möglicherweise spricht er deshalb junge Männer an, weil diese in die Rolle des Täters schlüpfen sollen.

Der Fremde spielt Theater. Wenn die gesamte Geschichte also ein Theaterstück ist, dann fragt sich der Leser natürlich: Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Er fragt sich wie der Student, wie es ausgehen wird. Wenn der Fremde ein Verrückter ist - ist es ein harmloser, ulkiger Irrer oder ein gefährlicher? Wird es als Komödie oder als Tragödie enden? Erst ganz am Schluss kommt die Auflösung: Es passiert nichts Schlimmes, der Mann ist, zumindest an diesem Abend, harmlos. Es ist also eine Komödie.

Bernhard spielt mit der Gespanntheit des Lesers: Man weiß als Leser nicht, "was hier gespielt wird." Und die seltsame Behauptung des Fremden, er könnte sagen, ob eine Komödie oder eien Tragödie gespielt werde, bezieht sich wohl auf die Begegnung mit dem Studenten. Wenn der Fremde den Studenten genau genug studieren würde, würde er erfahren, ob er gewalttätig veranlagt ist und könnte herausfinden, ob die Begegnung zu einer Tragödie führt.

Thomas Bernhard

Thomas Bernhard (1931-1989) gehört wohl zu den wichtigsten Autoren der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. In Holland geboren, wurde er schon früh lungenkrank. Zwischen 1955 und 1957 studierte Bernhard Musik und darstellende Kunst. Nebenbei schrieb er Gerichtsreportagen, Reiseberichte, Theater- und Filmkritiken.

Bereits der erwähnte Romanerstling "Frost" von 1963 ist von Pessimismus geprägt. Schon hier findet Bernhard zu seinen eigentülichen Stil, der den Leser je nach Neigung mitreissen oder abstoßen kann. Immer wiederkehrende Sätze und endlose Monologe der Hauptpersonen sind Bernhards Markenzeichen. Die Handlung steht dagegen im Hintergrund. Als wichtigstes Werk Bernhards gilt "Auslöschung. Ein Zerfall" (1986). 1970 bekam Bernhard den Georg-Büchner-Preis.

Bernhard starb am 12. Februar 1989. In seinem Testament verfügte er ein Publikations- und Aufführungsverbot seiner Werke in Österreich. Seitdem die Thomas-Bernhard-Privatstiftung das Verbot 1998 aufgehoben hat, werden seine Werke jedoch wieder aufgeführt.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Juni 2005

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