Wolfdietrich Schnurre: Man sollte dagegen sein
- Inhaltsangabe und Interpretation -
Die Geschichte zeigt nicht nur die Atmosphäre der Wiederaufrüstungszeit, sondern verschränkt geschickt Traum und Realität.
Inhaltsangabe
Hans Hase steht kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs vor einem Gericht. Er muss sich dafür verantworten, einen "Gasmann" verprügelt zu haben, der zum Kassieren in seine Wohnung kam. Ohne erkennbaren Grund habe ihn der Angeklagte angesprungen, ihn als Kriegsknecht und Uniformscheuche bezeichnet und gewürgt. Hase gibt das zu. Als er gefragt wird, ob er noch etwas vorzubringen habe, liest er Notizen vor, die er sich in der Untersuchungshaft gemacht hat.
Seinen Aufzeichnungen hat er die Überschrift "Acht Stunden vor meinem Tod" gegeben: Hase sitzt im Gefängnis und wartet darauf, dass er hingerichtet wird. Der Gefängnispfarrer bringt ihm Papier und Bleistift, dann wimmelt Hase ihn ab und beginnt zu schreiben.
Hase fährt frühmorgens mit dem Zug nach Hause. Seine Mitreisenden erzählen, dass es nun wieder eine Wehrmacht gebe. Alle freuen sich, nur Hase war froh, die alte los zu sein. Die Leute singen "Es zittern die morschen Knochen."
Zuhause gibt ihm seine Frau Grete einen Brief: den Einberufungsbescheid. ein Freund kommt vorbei, auch er hat einen solchen Brief bekommen und beschließt, diesmal zu sabotieren. Hans dagegen will nicht in die neue Wehrmacht. Er ändert das Datum in dem Gestellungsbefehl und macht sich auf den Weg zu seinem Freund Schorsch, der Chefredakteur der pazifistischen Tageszeitung "Weltfrieden" ist. Auf dem Weg nimmt er für einen andere Wehrunwilligen Partei, aber ohne Erfolg. Man jagt ihn, den Drückeberger und Vaterlandsverräter, und schießt auf ihn.
Blutend gelingt es ihm, zu Schorsch zu fliehen. Doch dessen Zeitung hat die Richtung gewechselt und empfiehlt jetzt die Wehrpflicht als Garant des Weltfriedens. Schorsch windet sich unter den Vorwürfen seines Freundes. Schließlich finden seine Verfolger ihn und führen ihn ab ins Gefängnis. Er wird vor ein permanent tagendes Standgericht geführt, wo man ihn ohne große Umstände wegen Kriegs- und Wehrdienstverweigerung, pazifistischen Umtrieben usw. zum Tode verurteilt. Wenn er freiwillig Militärdienst leisten würde, käme er mit einer Freiheitsstrafe weg, aber Hase hat nach sechs Jahren Soldatenleben genug vom Krieg und weigert sich. Er kehrt in die Zelle zurück. Dann klirrt wieder der Schlüsselbund draußen, man schiebt einen Pfarrer herein.
Hase faltet seine Notizen zusammen und sagt, den Rest müßte er frei erzählen. Der Anklagevertreter meint, man hätte ihm doch gar keinen Pfarrer geschickt. Richtig, sagt Hase, von ihm sei auch gar keiner gekommen. Als der Pfarrer gegangen wäre, hätte er aufgeschrieben, was er eben vorgelesen habe. Dann hätte er aber aus Angst und Panik vor der Hinrichtung keine Ruhe mehr gefunden. Plötzlich hätte es geklopft an der verschlossenen Tür und ein Mann in Uniform hereingekommen. "Kriegsknecht" hätte er geschrien und ihn zu Boden geschlagen. Dann habe er die Schrift auf der Mütze gesehen: Städtische Gaswerke. Der Gasmann bestätigt das.
Ob das seiner wahren Auffassung vom Militär entspreche, was er da gesagt habe, will der Anklagevertreter wissen. Ja, antwortet Hase. Das Publikum tobt und beschimpft den Angeklagten als vaterlandslosen Dreckskerl. Der Richter lässt den Saal räumen.
Ob er jetzt gehen kann, will Hase wissen. Der Richter zögert: "Weiß nich so recht. Denk, s Beste dürft sein, man behält sie erst mal in Schutzhaft."
Interpretation
Kurz nach dem Krieg schrieb Schnurre ausgesprochene Kahlschlagliteratur. Dazu gehört auch die Sammlung "Man sollte dagegen sein", die Erzählungen aus den Jahren 1945-47 enthält. Die Titelgeschichte der Sammlung ist durchgehend in der Gegenwartsform geschrieben, die Dialoge und inneren Monologe von Hase sind in Umgangssprache gehalten, so beginnt die Geschichte z.B. mit den Sätzen: "An der Wand, überm Geschworenentisch ist n weißer Fleck. Hing wohl mal n Führerbild. Damals."
Wiederaufrüstung
Die Zielrichtung ist eindeutig pazifistisch. Schnurre beschreibt die Zeit der Wiederaufrüstung. Kaum ist die alte Wehrmacht untergegangen, will die Bevölkerung schon wieder eine neue. Die Pazifisten sind in der Minderzahl, werden beschimpft und gejagt.
Interessante Erzähltechnik
Interessant an der Geschichte ist die Erzähltechnik: Hase hat geschlafen, als der Gasmann hereinkam. Er hat die Geschichte mit dem Einberufungsbescheid und die gesamte Verfolgungsjagd geträumt. Als ihn der Gasmann weckt, glaubt er einen Soldaten in Uniform zu sehen und schlägt ihn nieder. In der Untersuchungshaft schreibt er dann seinen Traum nieder. Bis zu der Stelle, als der Pfarrer geht und Hase in Panik in der Zelle zurückbleibt. An dieser Stelle des Traums ist er nämlich durch den Gasmann geweckt worden.
Doch Traum und Realität sind nicht weit voneinander entfernt. Das Publikum im Gerichtssaal ist genauso vaterländisch gesinnt wie die Leute in Hases Traum, und sogar der Richter, der einen besonneneren Eindruck macht, nimmt ihn in Schutzhaft. Hase scheint auch immer noch nicht klar zu sein, dass er geträumt hat. Jedenfalls erzählt er den Traum und dann den Angriff auf den Gasmann, als ob ihm der Unterschied nicht bewusst sei.
Widerstand im Konjunktiv
Der Titel der Geschichte, "Man sollte dagegen sein", stellt auf den ersten Blick ein Rätsel dar: Der Konjunktiv deutet ja an, dass jemand sich aus Feigheit der militaristischen Verführung nicht widersetzt. Die Hauptperson aber ist "dagegen", auf sie kann sich der Titel nicht beziehen. Auf Schorsch passt der Satz: Er hat seine pazifistischen Überzeugungen aufgeschoben - wenn nicht aufgegeben: "Sieh mal: zuerst, da - da muss man eben mitmachen, stimmt's. Später, so allmählich, da kann man ja dann wieder umschwenken, nich."
Mitläufer
Der unsichere ("stimmt's", "nich") Schorsch ist wohl die Gestalt, von der Schnurre ausgegangen ist. Seine Haltung ist es, auf die Schnurre mit der Geschichte abzielt. Die Szene in der Redaktion ist wohl auch eine der stärksten in der Geschichte. Hauptzielrichtung von Schnurres Kritik ist nicht das militaristische Volk, sondern diejenigen, die sich wider besseren Wissens für das Militär einspannen lassen - wie Schorsch: "Wär doch Wahnsinn jetz; wär doch glatter Selbstmord. Ich mein -: Is ja bloß, bis sich so der erste Trubel gelegt hat. Nachher dann - na, da sollste mal sehn."
Insgesamt ist die Geschichte nicht nur zeitgeschichtlich, sondern auch erzähltechnisch weiter interessant.
Wolfdietrich Schnurre
Der vergessene Klassiker: Schnurre (1920-1989) gehört neben Borchert und Böll zu den wichtigsten deutschsprachigen Kurzgeschichten-Autoren der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Schnurre ist wohl am besten bekannt durch seine Vater-und-Sohn-Geschichten (z.B. "Als Vaters Bart noch rot war", 1958). Heute ist er wohl zum größten Teil vergessen – obwohl er die Gruppe 47 mitbegründete und 1983 den Büchner-Preis bekam. Schnurre war sechs Jahre Soldat im Zweiten Weltkrieg und litt sein ganzes Leben darunter. Er starb 1989.
Bibliographisches
- Die Geschichte stammt aus dem Band "Man sollte dagegen sein", 1960
- Gelesen in: ?
- Guter Überblick über Schnurres Leben und Werk: Vom Vergessen bedroht: Überlegungen zu Wolfdietrich Schnurre
Letzte Änderung: August 2000
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