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Katrin Dorn: Maritas Andenken

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Eine jüngere Kurzgeschichte, in der man wie ein Voyeur durchs Schlüsselloch in das Liebesleben einer jungen Frau gucken darf.

Inhaltsangabe

Marita wohnt seit fast zehn Jahren allein in ihrer Dreizimmerwohnung. Immer wieder hat sie Affairen mit Männern, aber die erhoffte, länger dauernde Beziehung ergibt sich nicht. Aber jeder lässt etwas bei ihr liegen. Diese Andenken reiht Marita sorgfältig in einem unbenutzten Zimmer auf, sammelt sie. Als sie in die Wohnung einzog - es ist ihre erste eigene - dachte sie bei der ersten Affaire, der Mann würde bleiben, aber allmählich stellt sich Ernüchterung ein. Es endet immer damit, dass der Mann sagt: "Ich weiß gar nicht, ob ich in dich verliebt bin."

Zunächst lernt sie die Männer in der Disco kennen, später beim Tango. Der Tango eignet sich besser, weil man sich auch körperlich kennenlernt. Dadurch wird die Zahl der mitgenommenen Männer, aber auch die Fehlerrate reduziert.

Auch Heiko hat sie nach dem Tango heimbegleitet. Aufgefallen ist er ihr durch seinen blauen Seidenschal. Seide ist nicht aufzuhalten, heißt es, und so nimmt sie ihn mit, obwohl er nicht besonders gut aussieht. Der Seidenschal gleitet zu Boden, und sie landen schnell im Bett. Kurz vor dem Orgasmus öffnet Marita die Augen - und merkt sofort, dass auch Heiko nicht bleiben wird. Und tatsächlich: Er sagt den gefürchteten Satz, "Ich weiß gar nicht, ob ich in dich verliebt bin."

Interpretation

Die Geschichte erzählt von den Beziehungsproblemen einer jüngeren Frau in den Dreißigern. Woran ihre Beziehungen scheitern, ist nicht Bestandteil der Geschichte. Die Protagonistin nimmt die Kurzlebigkeit ihrer Affairen fast fatalistisch hin. Dabei wirkt sie weder larmoyant noch zynisch. Sie denkt gern an die einzelnen Männer zurück, hat zu vielen von ihnen noch Kontakt. Jeden der Männer hat sie geliebt, sagt sie, und jeder setzt sich in ihrer Erinnerung fest. Symbole dieser Erinnerungen sind die Andenken, die Marita sammelt. So wird sie auch den blauen Seidenschal in ihre Sammlung einreihen. Dieser steht wohl für Eitelkeit. Andere Männer lassen "CD-ROM-Laufwerke oder Gewindeschneider" zurück - das sind technisch veranlagte Menschen - oder "eine Tigerkralle zum Aufrauhen der Schuhsohlen" - das sind eher kauzige Männer.

Nicht wichtig: Liebe und Sex

Die Frage, ob ein Mann sie liebt, ist Marita gleichgültig. Verliebt sein ist nur ein flüchtiges Gefühl, das kommt und wieder geht. Sie erwartet nicht, dass ein Mann ununterbrochen in sie verliebt ist. Liebe ist "nichts, worüber man reden muss, findet Marita, obwohl sie weiß, dass es fast jeder Mann irgendwann muss. Dass sie daraus nie Konsequenzen gezogen hat, ist eine Frage, über die ihre Freunde gern und oft ins Philosophieren kommen." Auch Sex ist ihr nicht wichtig: "Ich hab den ganzen Sex nur in Kauf genommen, damit ihr mich in die Arme nehmt", sagt sie zu einem ihrer Ex-Freunde. Marita scheint feststehende Vorstellungen von der Liebe zu haben, Erwartungen, die sich nicht erfüllen.

Der Leser als Voyeur

Die erzählten Details sind dabei so intim, dass man sich als Leser bisweilen wie ein Voyeur vorkommt. Dieser Schlüssellochblick zieht den Leser in seinen Bann. Interessant wird die Geschichte also durch eine sehr persönliche Sicht auf die Beziehungsprobleme und sexuellen Erfahrungen einer Frau. Es kommt Dorn weder auf die die Handlung (wie im Drama), noch Metaphern und Bilder (wie in der Lyrik) an. Die Gefahr, allzu theoretisch zu werden, entgeht die Geschichte durch szenenhafte Darstellung und Symbolismus. So ist die Geschichte ein Beispiel dafür, dass eine Kurzgeschichte auch funktionieren kann, wenn die Innensicht eines Protagonisten im Mittelpunkt steht.

Personale Perspektive, Rückblenden

Die Geschichte ist personal aus der Sicht von Marita erzählt. Dabei fließen aber immer wieder Überlegungen ein, die eine Übergangsform zur auktorialen Perspektive darstellen: "Seide ist nicht aufzuhalten. Einmal gelöst, zieht es sie nach unten..." oder "Manchmal macht man ja an dieser Stelle ganz unglückliche Figuren." Dies könnten Überlegungen von Marita oder aber solche eines auktorialen Erzählers sein. Auch die zahlreichen Rückblenden sind auktoriale Aspekte. Denn diese Flashbacks sind eher nicht Gedanken der Hauptperson: Es ist unwahrscheinlich, dass sie kurz vor dem Orgasmus die letzten zehn Jahre ihres Lebens rekapituliert.

Zeitformen

Dorn verwendet das Präsens für die Zeit im Bett mit Heiko. Da von den acht Seiten der Geschichte etwa sechseinhalb Seiten vor diesem Zeitpunkt spielen, ist ein Großteil im Imperfekt geschrieben. Die Geschichte beginnt auch im Präteritum, springt aber dann ins Präsens:

"Der blaue Seidenschal war das erste, was Marita an dem Mann bemerkt hatte. Und sie dachte, dass ein Mann, der einen solchen Schal trug, ruhig ein bisschen besser aussehen könnte. Trotzdem wusste sie schon in diesem Monment, dass sie mit ihm schlafen würde. Seide ist nicht aufzuhalten... Marita sähe jetzt gern... Sie hat den Mann in ihr Schlafzimmer geführt..."

Das Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Zeitebenen kann den Leser hier leicht verwirren. So könnte man glauben, die Anfangsszene würde gerade ablaufen, und Dorn hätte sie - wie es bei vielen, traditionellen Kurzgeschichten ist - im Imperfekt erzählt. Erst am Ende der ersten Seite springt Dorn ins Präsens: "...bis er sich fühlte wie ein umsorgter Nackedei. Aber nun versucht er,...". Hier stellt sich heraus, dass der Anfang der Geschichte in der Vergangenheit spielte.

Spärliche Handlung

Die eigentliche Handlung der Geschichte erstreckt sich nur über einen Zeitraum von vielleicht einer halben Stunde: Diese Handlung wird im Präsens erzählt: "Aber nun... dringt er immer mutiger in die Landschaften ihres Körpers vor." Die Handlung erstreckt sich über zwei Absätze am Anfang der Geschichte und die letzte Seite. Alles andere sind Rückblenden. Diese zeigen einerseits, was am selben Abend passiert ist, bevor Heiko mit ihr im Bett landet. Andererseits berichtet Dorn hier, wie das Leben von Marita abläuft. Auch die erinnerten Passagen sind wie Szenen gestaltet: "Von einer leeren Streichholzschachtel strömen ihr ganze Sommermonate des Glücks entgegen, ein silbernes Feuerzeug entzündet noch einmal das erotische Knistern einer Nacht..." Auch hier springt Dorn ins Präsens.

Aus Autorensicht

Eigentlich hätte diese Geschichte schief gehen müssen. Die Story hält sich nicht an die Schreibregeln und Rezepte der Creative-Writing-Bücher. Das zeigt schon der Anfang mit der Durchmischung der Zeitebenen, mit der Tatsache, dass der Ort der Handlung nicht sofort deutlich wird. Auch dass kein dramatisches Konzept hinter der Geschichte steckt - es gibt ja fast keine Handlung, sondern nur Rückblenden.

Noch etwas Gefährliches tut Dorn in dieser Geschichte: Sie schildert die Beziehungsprobleme einer Frau, die etwa so alt ist wie sie selbst. Das birgt die Gefahr, ins Autobiografische zu rutschen, so dass das Ergebnis einer Lebensbeichte näher kommen könnte als einer Kurzgeschichte. Die personale Perspektive hilft gegen diese Bedrohung, ist aber keine Garantie des Gelingens. Dass die Geschichte nicht larmoyant wirkt, liegt an der Hauptperson: Obwohl sie keinen Ausweg aus ihrer Beziehungslosigkeit sieht, ist sie nicht das stille Opfer, das sich in vielen Anfängergeschichten als Hauptperson findet.

Letztlich ist das Gelingen der Geschichte aber wohl darauf zurückzuführen, dass Dorn etwas zu bieten hat: Sie gewährt dem Leser einen Blick in das private Leben eines Menschen, dorthin, wo sonst kaum jemand hineinsehen kann. Das rettet die Story. Sie ist gut, obwohl sie sich nicht an die Regeln einer klassischen Kurzgeschichte hält.

Schön detailliert und intuitiv geschildet sind die Andenken: Sie lassen entfernt an die Madeleine-Erinnerungen von Proust denken. Vielleicht waren sie der Anstoß für die Geschichte?

Katrin Dorn

Dorn wurde 1963 in Gotha geboren, wuchs in Thüringen auf, studierte Psychologie in Leipzig, arbeitete ab 1996 als freie Autorin in Berlin und wohnt heute in Hamburg. Sie studierte Psychologie und betreute veschiedene Theaterprojekte. 1997 veröffentlichte sie den Erzählungsband "Der Hunger der Kellnerin", im Jahr 2000 den Roman "Lügen und Schweigen" und 2002 wieder Kurzgeschichten unter dem Titel "Tangogeschichten".

Bibliographisches

Letzte Änderung: Dezember 2003

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