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Elisabeth Langgässer: Saisonbeginn

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Der tote Jude und das Schild: Langgässer spart sich in der klassischen deutschen Kurzgeschchte die enthüllende Pointe für den letzten Satz auf.

Inhaltsangabe

Drei Männer sind an einem schönen Spätfrühlingstag unterwegs, um am Eingang eines Kurorts in den Bergen ein Schild aufzustellen. Sie untersuchen verschiedene Stellen und entscheiden sich für den Platz neben einem Holzkreuz. Dort stellen sie das Schild auf, wobei ihnen ein paar Kinder zur Hand gehen. Vorbeikommende Ortsansässige lachen oder sind gleichgültig, ein paar Nonnen gucken verunsichert. Die Aufschrift des Schildes wird erst im letzten Satz enthüllt: "In diesem Kurort sind Juden unerwünscht."

Interpretation

Die Geschichte lebt beim ersten Lesen von der Spannung, die Langgässer erzeugt, indem sie die Inschrift des Schildes erst ganz am Ende der Geschichte enthüllt. Das Erzählte läuft auf diese Pointe zu. Erst rückblickend, am Ende der Geschichte und beim Wiederlesen wird deutlich, wann die Geschichte sich ereignet, und was hinter dem Geschehen steckt: Die Geschichte spielt in der Nazizeit und thematisiert die Judendiskriminierung. Langgässer verwendet die auktoriale Erzählhaltung: Der allwissende Erzähler kennt ein Geheimnis (die Aufschrift des Schildes) und verheimlicht es dem Leser bis zum Schluss.

Die auktoriale Perspektive wird auch an der Vorbereitung der Pointe deutlich: Langgässer schildert zu Beginn die Idylle des Frühlingstags in den Bergen. Dabei übertreibt sie jedoch wie die Fremdenverkehrswerbung: Die Wiesen stehen in "Saft und Kraft", die Trollblumen "platzen vor Glück", der Himmel strahlt in "unwahrscheinlichem Blau". Hier weckt die Autorin das Misstrauen des Lesers gegenüber der Idylle: Das alles ist zu perfekt, um wahr zu sein. Im Nachhinein erkennt der Leser, dass er durch das Fragwürdige an dieser Idylle auf die bittere Pointe vorbereitet wurde.

Abschreckendes Beispiel

Der Titel der Geschichte, "Saisonbeginn", stammt aus der Jägersprache und spielt auf den Beginn der Judendiskriminierung und -verfolgung an. Die drei Arbeiter stellen das Schild auf, damit ankommende jüdische Touristen gleich am Ortseingang umkehren. Vielleicht sehen die unerwünschten Besucher den gekreuzigten Jesus als abschreckendes Beispiel. Denn die Kreuzinschrift INRI bedeutet ja "Jesus aus Nazareth, König der Juden".

Die Bedeutung der Inschrift ist den Bewohnern des Dorfes jedoch nicht mehr klar. Sie haben verdrängt, dass Jesus Jude war. Dadurch, dass nun der gekreuzigte Jude Jesus und das Juden-unerwünscht-Schild nebeneinander stehen, werden die Kreuzigung und die Judenverfolgung in der Nazizeit in Parallelität gesetzt. Der Kurort in den Bergen ist ein modernes Golgatha, eine Hinrichtungsstätte: Beide Orte sind abgelegen, befinden sich auf einem Hügel. Ein Totenkopfschild weist zusätzlich auf die Parallele hin.

Die vergessene Botschaft

Die Geschichte zeigt den Widerspruch zwischen christlicher Botschaft und Judenverfolgung. Das Schild ist wie eine Verhöhnung des leidenden Jesus: Er wird zwar verehrt, aber seine Liebesbotschaft wird nicht verfolgt. Zu seinen Schmerzen am Kreuz kommt die Verhöhnung durch das Schild, auf das er sehen muss.

In der Reaktion der Dorfbewohner auf das Schild schildert Langgässer auch, die Reaktion vieler Deutscher auf die Judenverfolgung: Die meisten sind gleichgültig, bestenfalls verunsichert. Einige betätigen sich als Mordhelfer, nämlich die Kinder, die am leichtesten zu verführen sind: Sie betrachten es als Ehre mitzuhelfen. Die drei Arbeiter haben die gleiche Funktion wie die römischen Soldaten, die Jesus ans Kreuz nagelten. Sie führen einen Befehl aus - den der Kurverwaltung oder des Bürgermeisters - sind aber gleichzeitig offenbar zufrieden mit ihrer Aufgabe: Sie sind "Hitlers willige Vollstrecker".

Geschäftsinteressen

"Saisonbeginn" enthält auch Hinweise auf eine Verbindung zwischen Geschäftsinteressen der Dorfbewohner und der Judendiskriminierung. Der Ort hofft auf "den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift", hofft, dass die Juden fernbleiben und dafür umso mehr reiche, regimetreue Autobesitzer anreisen: "Das Geld würde anrollen."

Elisabeth Langgässer

Die christliche Autorin (1899-1950) gehörte zusammen mit Oskar Loerke, Peter Huchel und Günter Eich zum Dichterkreis der Zeitschrift "Kolonne". Als "Halbjüdin" erhielt sie in der Nazizeit Publikationsverbot. Ihre Tochter wurde ins Konzentrationslager deportiert. Daneben machten ihr ihre Krankheit (Multiple Sklerose), die Verfolgung durch die Nazis und der Krieg zu schaffen. Ihr Hauptwerk ist der Roman "Das unauslöschliche Siegel" (1946).

Bibliographisches

Letzte Änderung: März 2003

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