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Haruki Murakami: UFO in Kishuro

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Eine der besten Kurzgeschichten, die ich seit langem gelesen habe - von einem Autor, der derzeit in aller Munde ist.

Eine Katastrophe wie die Tsunami-Welle oder ein Erdbeben kann Hunderttausende von Menschen töten. Aber seltsam: Wenn wir davon in der Zeitung lesen, bleibt uns das Schicksal der Opfer oft gleichgültig. Es berührt uns weit weniger, als wenn uns ein Freund von seinem Unglück erzählt. Was in der Wirklichkeit gilt, ist in der Literatur ebenso wahr: Eine Kurzgeschichte über das Elend von Hunderttausenden von Menschen ist kaum vorstellbar. Aber eine Story über einen einzelnen Menschen sehr wohl. In seiner Geschichte "UFO in Kishuro" versucht der japanische Autor Haruki Murakami, den Folgen des Erdbebens von Kobe (1995) ein Gesicht zu geben. Das Beben bringt darin das Leben eines Mittdreißigers durcheinander.

Inhaltsangabe

Fünf ganze Tage verbringt die Frau des Hifi-Anlagen-Verkäufers Komura vor dem Fernseher und starrt sprachlos auf die Bilder von zerstörten Straßen und Häusern, Bilder von einem Erdbeben. Wenn ihr Mann morgens zur Arbeit geht, sitzt sie vor dem Fernseher, und wenn er abends zurückkommt, sitzt sie immer noch da. Aber am Abend des fünften Tages ist sie verschwunden. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie, sie wolle nicht mehr länger mit ihn zusammensein, denn das sei, wie mit einem Klumpen Luft zusammenzuleben.

Komura nimmt erstmal Urlaub, um sich mit dem Schock abzufinden. Sein Kollege Sasaki bittet ihn, da er noch nichts vorhat, ein Paket für ihn zu überbringen. Komura soll nach Kishuro fliegen und es Sasakis Schwester übergeben. Obwohl er nicht weiß, was in dem Paket ist, willigt Komura ein.

Am Flughafen in Kishuro wird Komura von zwei Frauen empfangen - der Schwester Sasakis und einer Freundin namens Shimao. Im Gespräch erfahren sie, dass Komura von seiner Frau verlassen wurde. Sie bringen ihn zu der Unterkunft, die sie für ihn ausgesucht haben - es ist ein Love Hotel. Die Frauen lassen ihm eine Badewanne ein, und als Komura aus dem Bad kommt, ist nur noch Shimao da. Kurz darauf schlafen sie miteinander.

Shimao fragt danach, was in dem Abschiedsbrief seiner Frau stand, und Komura erwähnt den Klumpen Luft, deutet das als innere Leere. Dann grübelt er, was wohl in dem Paket gewesen wäre, und Shimao sagt: dein Inneres. Da wird Komura wütend, aber Shimao entschuldigt sich sofort. Ob er nicht plötzlich das Gefühl habe, weit gereist zu sein, fragt sie ihn. Und als er ja sagt, meint Shimao: Und das ist erst der Anfang.

Interpretation

Der Leser stellt sich bei dieser Geschichte eine ganze Reihe von Fragen, deren Antwort nicht immer ganz einfach ist. Die erste Frage ist: Was hat die Verstörung durch das Erdbeben mit dem Verschwinden von Komuras Frau zu tun? Es könnte einen kausalen Zusammenhang geben: Frau Komura hat durch die Bilder vom tausendfachen Sterben über ihr eigenes Leben nachgedacht. Es könnte so sein, aber es muss nicht.

Ein geheimnisvolles Päckchen

Die nächste Frage ist die, was es mit dem geheimnisvollen Päckchen auf sich hat, das Sasaki dem Helden mitgibt. Was ist darin? Möglicherweise gar nichts, wie es die Bemerkung von Shimao nahelegt. Aber es könnte auch zum Beispiel ein Schmuckstück für Sasakis Schwester sein.

Kuppelei oder nicht?

Was haben das Verschwinden der Frau und das Päckchen miteinander zu tun? Es könnte so sein, dass Sasaki vom ehelichen Crash Komuras Wind bekommen hat und ihn nun verkuppeln will. Deswegen schickt er ihn unter einem Vorwand zu seiner Schwester, die eine einsame Freundin hat... Besonders witzig findet er vielleicht, dass er Komura in einer Art Stundenhotel unterbringt. Die Story könnte also eine Kuppelgeschichte sein: Komura wird am Ende deshalb so wütend, weil er merkt, dass er genasführt wurde. Aber es könnte auch ganz anders sein.

Alles in der Schwebe

Das Raffinierte an der Geschichte ist, dass alles irgendwie in der Schwebe bleibt. Das ist so kunstvoll gemacht, dass es einem fast wie eine Entzauberung vorkommt, eine Interpretation hinzuschreiben, die ja doch nur eine von vielen möglichen Lesarten ist. Trotz der auktorialen Erzählhaltung befindet sich der Leser auf Augenhöhe mit Komura: Der weiß wahrscheinlich auch nicht, was gespielt wird, oder ob all das nur Zufall ist. Die Story ist ein Exempel für Hemingways Eisbergtheorie: Sechs Siebtel liegen unter Wasser, nur der kleinere Teil ist sichtbar. Der Leser sucht sich ein Muster in den Geschehnissen: Die Frau ist verstört durch das Erdbeben und verlässt Komura kurz danach. Zufall oder nicht? Man vermutet einen Zusammenhang, kann sich aber nicht sicher sein. Ähnlich ist es mit dem Päckchen: War es wirklich leer?

Von Frage zu Frage

Bei alldem ist die Geschichte auch noch spannend. Schon der Titel weckt Neugier. Und dann wird man sozusagen von Frage zu Frage weitergereicht, bis zum Schluss, und auch der bleibt offen. Sicher ist nur: Etwas in Komuras Leben hat sich geändert, er ist "weit gereist".

Aus Autorensicht

Wie erzeugt man in einer Kurzgeschichte Spannung? Eine Möglichkeit ist: Man bringt zwei Tatsachen (das Verschwinden der Frau und das Kästchen) ins Spiel, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, anscheinend aber doch.

Wie erzeugt man mit einer Geschichte das Gefühl, einem Geheimnis auf der Spur zu sein? Indem man ein Kästchen ins Spiel bringt, dessen Inhalt unklar ist und das auch bleibt.

Wie schafft man es, dass man als Leser letztlich das Gefühl hat, dass die Story rund ist, aber nicht künstlich abgerundet? Indem man die persönliche Katastrophe in einem Happy End auslaufen lässt, das dennoch eine Prise Unsicherheit enthält.

Diese drei Kniffe wendet Haruki Murakami in seiner Geschichte "Ufo in Kushiro" an. Eine der gelungensten Kurzgeschichten, die ich seit langem gelesen habe.

Haruki Murakami (*1949)

1949 in Kyoto geboren, ist Murakami in Kobe aufgewachsen. Er lebte längere Zeit in Europa und den USA, hat die Werke von Raymond Chandler, John Irving, Truman Capote und Raymond Carver ins Japanische übersetzt. Seine Romane (Gefährliche Geliebte, Mister Aufziehvogel, Naokos Lächeln, Sputnik Sweethart, Tanz mit dem Schafsmann) liegen derzeit in vielen Buchhandlungen stapelweise herum. Weitere Informationen zu Murakami findet man in der Wikipedia-Enzyklopädie.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Juni 2005

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