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Raymond Carver: Zeichen

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Einer der wichtigsten Kurzgeschichten-Autoren der letzten Jahrzehnte seziert eine Ehekrise - aus einer interessanten Perspektive und mit jeder Menge noblem Understatement.

Inhaltsangabe

Wayne geht mit seiner Frau Caroline zur Feier ihres Geburtstages fein essen. Sie speisen bei Aldo. Vom Eigentümer des Restaurants weiß Caroline, dass er mit der Hollywood-Schauspielerin Lana Turner eng befreundet gewesen sein soll.

Die Eheleute studieren die Speisekarte, sind sich unschlüssig. Als der Kellner kommt, schickt ihn Wayne deshalb zunächst wieder weg. Schließlich bestellen sie, trinken Champagner und stoßen auf den Geburtstag an. Dann kommt Wayne auf ihre Ehe zu sprechen:

"Wir sollten so etwas öfter machen", sagte er.
Sie nickte.
"Es tut gut, ab und zu mal rauszukommen. Ich will mir mehr Mühe geben, wenn du das möchtest."
Sie nahm eine Selleriestange. "Das musst du wissen."
"Das stimmt nicht! Ich bin nicht der, der ... der ..."
"Der was?" sagte sie.
"Mir ist egal, was du tust", sagte er und schlug die Augen nieder.

Wayne ist zunehmend schlechter Laune, er nörgelt an dem Restaurant herum. Außerdem macht er einen unsicheren Eindruck. Caroline versucht, den Abend zu retten: "Lass uns über was Nettes sprechen". Sie lobt das Restaurant, ist freundlich zum Kellner und zu Aldo. Wayne aber insistiert:

Sie hatten gerade mit dem Hauptgericht angefangen, da sagte Wayne: "Also, was meinst du? Gibt es eine Chance für uns, oder nicht?" Er senkte den Blick und zog die Serviette auf seinen Knien zurecht.
"Vielleicht", sagte sie. "Es gibt immer eine Chance."

Als Wayne sie noch ein drittes Mal fragt, zeigt sich Caroline unschlüssig:

"Ich bin sechsunddreißig Jahre alt", sagte sie. "Siebenunddreißig heute abend. Heute abend, jetzt, in dieser Minute kann ich einfach nicht sagen, was ich tun werde. Ich muss einfach sehen", sagte sie.
"Mir ist egal, was du machst", sagte er.

Nach dem Essen wirft Wayne eine Dollarnote für den Kellner auf den Tisch, Caroline legt noch zwei daneben. Aldo verabschiedet Caroline mit einer langstieligen Rose und viel Charme. "Man kann sich schon vorstellen, dass er mit Lana Turner befreundet war", sagt Caroline dazu. "Ich glaub nicht, dass er ihr je begegnet ist", antwortet Wayne übellaunig und will möglichst schnell aus dem Lokal verschwinden.

Interpretation

Carver erzählt den Verlauf eines eher ereignislosen Abendessens in einem vornehmen Restaurant. Es gibt wenig Handlung; die wichtigen Dinge laufen in den Köpfen der beiden Eheleute ab. Aus den Gesprächen ist zu entnehmen, dass Caroline kurz vor dem Restaurantbesuch die Beziehung zu Wayne in Frage gestellt hat. Bei dem Ehekrach der beiden scheint es um den neuen, bildungsbürgerlichen Bekanntenkreis von Caroline zu gehen:

"Ich geb offen zu, ich bin kein besonderer ... Connoisseur. Ich geb offen zu, ich bin ein Banause. ... Nicht wie die Leute, mit denen du neuerdings verkehrst."

Um Caroline etwas Connoisseur-haftes zu bieten, spendiert Wayne den noblen Restaurantbesuch: "Die erste Extravaganz, die Wayne und Caroline sich für diesen Abend ausgedacht hatten, bestand darin, dass sie zu Aldo`s fuhren, einem eleganten neuen Restaurant, das ein gutes Stück nach Norden raus lag." So lenkt schon der erste Satz der Story den Blick auf die Achillesferse von Wayne: seine Bildung. (Anmerkung am Rande: Was die zweite Extravaganz war, erfahren wir nicht.)

Wayne versucht, ihren Ehekonflikt zur Sprache zu bringen, doch Caroline weist ihn kühl ab. Als er insistiert, sagt sie, sie wisse noch nicht, was sie tun werde. Dass er antwortet, es sei ihm egal, wozu sie sich entscheide, klingt wenig glaubhaft. Sein wiederholtes Nachfragen zeigt, dass er Angst hat, Caroline könnte ihn verlassen.

Entscheidungsschwäche

Keiner von den beiden Ehepartnern weiß, was er will. Das zeigt Carver in der Anfangsszene. Wayne und Caroline studieren die Speisekarte, können sich aber nicht entschließen. "Wir haben uns noch nicht entschieden..." Dieser Satz charakterisiert Wayne und Caroline auch in Bezug auf ihre Beziehung. Damit wird die Entscheidung über das Essen zur Metapher der Entscheidung über die Zukunft ihrer Ehe.

"Ich weiß nicht"

Wayne möchte gerne wissen, woran er ist: "Ich weiß nicht", sagte er. "Ich mag es eigentlich lieber, wenn ich weiß, was ich kriege. Ich weiß einfach nicht." Diese Äußerung von Wayne bezieht sich auf das Essen, trifft aber auch auf seine Beziehung zu Caroline zu. Er möchte wissen, wie sich Caroline verhalten wird.

Zeichen

"Ich geb Ihnen ein Zeichen, sobald wir soweit sind." Dieser Satz und der Titel der Geschichte, "Zeichen", könnten darauf verweisen, dass beide Ehepartner nach Zeichen dafür suchen, was der jeweils andere will. Wayne zeigt durch sein Insistieren, dass er die Beziehung fortsetzen will, Caroline zeigt durch ihre kühle Reaktion, dass sie es nicht will. Auch ihre Reaktion auf Aldos Charme legt nahe, dass sie dergleichen Gesten bei Wayne vermisst.

Wayne als der Schwächere

Wayne ist in der Beziehung eindeutig der Schwächere. Das zeigt seine Körpersprache: Er schlägt immer wieder die Augen nieder, hält ihrem Blick nicht stand. Dadurch, dass ihre Ehe nun zur Disposition steht, ist er aus dem Gleichgewicht gebracht. Er weiß nicht, ob er um Caroline kämpfen oder sie in die Wüste schicken soll. Er kann sich nicht entscheiden. Bei ihr ist es ebenso. Das Paar ist in einer Entscheidungsphase. Aber die Zeichen, die die beiden Protagonisten aussenden, deuten darauf hin, dass Caroline ihren Mann verlassen wird.

"Würdest du bitte endlich still sein, bitte"

Die Geschichte "Zeichen" ist die vorletzte Geschichte aus dem ersten Erzählband Carvers. Auf sie folgt eine Geschichte, deren Titel "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" auch der Titel des Buches wurde. Sie hat deutliche Parallelen zu der Geschichte "Zeichen". Auch in "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" schildert Carver eigene Eheprobleme. Der Mann in der genannten Story heißt Ralph, in "Zeichen" heißt er Wayne. Nimmt man beide Verfremdungen zusammen, ergibt sich die Kurzform von Carvers Vornamen, Ray.

Ehebruch ante portas?

Auch in "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" weiß der Mann nicht, wie er sich zu seiner Frau verhalten soll. In diesem Fall ist der Anlass für die Unruhe ein Ehebruch, während es in "Zeichen" wohl noch nicht soweit ist - wenn auch die Schlussszene einen Ehebruch durch Caroline möglich erscheinen lässt.

Eingeschränkt-auktoriale Perspektive

Die "Zeichen"-Geschichte ist in eingeschränkt-auktorialer Perspektive geschrieben, wobei man einen personalen Einschlag erahnen kann. Der Autor schildert das Geschehen fast ausschließlich von außen, gibt wieder, was ein Kameramann filmen würde. So wird die Mimik beider wiedergegeben: "... dann sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an, während er ... die Lippen vorschob, die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte." (S. 290)

Kein allwissender Erzähler

Der Erzähler ist jedoch keineswegs allwissend, denn die Gedanken der Personen bleiben deren Geheimnis. Carver wahrt Distanz zu den beiden Protagonisten. Dabei ist die Distanz zu Wayne und zu Caroline etwa gleich groß. Da Carver hier seine eigenen Eheprobleme verarbeitet, mag ihm das geholfen haben, die Objektivität zu wahren. An einigen Stellen scheint der Erzähler sich ein wenig mehr für Wayne zu interessieren: "Über die gedämpften Stimmen ... hinweg konnte Wayne ein Trillern hören ... Er sah, dass..." Hier werden Sinneswahrnehmungen von Wayne geschildert; die von Caroline werden ausgespart. Man kann das eine personale Tönung der sonst auktorial wirkenden Geschichte nennen.

Aus Autorensicht

Aus der Sicht des Autors ist zweierlei interessant. Erstens zeigt Carver, dass eine Geschichte auch funktioniert, wenn sie kaum eine Handlung hat und stattdessen fast ausschließlich aus Dialog besteht. Viele Geschichten setzen sich aus drei "Ge"-Elementen zusammen: Gedanken/Gefühlen, Gesprächen und Geschehen. Carver beschränkt sich auf die Gespräche - wohl das natürlichste Mittel, zwischenmenschliche Beziehungen und Konflikte darzustellen. Die gespannte Atmosphäre zwischen den beiden Protagonisten packt den Leser. Viele Carver-Geschichten sind so: Es sind Beziehungsgeschichten, die vom Dialog leben.

Das Wesen vom anderen Stern

Wie auch manche Storys von Hemingway (z.B. "Die Killer") kommt Carver zweitens fast vollständig ohne Innensicht aus, also ohne Gedanken und Gefühle. Das hat einerseits seinen Reiz, andererseits fehlt eine Dimension, denn der Leser wird über die Gedanken der Protagonisten im unklaren gelassen. Das macht es dem Leser schwer, und so gehört Carver wohl nicht zur einfachen Lektüre. Fritz Gesing zu dieser Erzählweise: "Der Erzähler bezieht keine Stellung, zeigt weder Sympathie noch Antipathie und lädt auch nicht zur Identifikation ein. Er konfrontiert den Leser mit den ungedeuteten Fakten und verrätselt auf diese Weise ... die Geschichte. Manchmal erscheint er wie ein Wesen von einem anderen Stern, das alles sieht und alles hört, doch nichts versteht." ("Kreativ schreiben", Köln, 1994, S. 133)

Bibliographisches

Letzte Änderung: März 2004

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