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Der Schreibprozess

Stoff finden, Prämisse suchen, schreiben, überarbeiten: Der mühsame Weg von der ersten Idee zur fertigen Geschichte. 
Inhalt:
  1. Grundidee
  2. Personen und Erzählstimme
  3. Prämisse
  4. Erste Version und erste Überarbeitung
  5. Liegen lassen und weitere Überarbeitungen
  6. Fremde Hilfe und Überarbeitung
  7. Wegwerfen, liegenlassen oder überarbeiten?
  8. Täglich schreiben
  9. Normseiten, zwei Minuten pro Seite
  10. Analysieren und kritisieren
  11. Andere Theorie-Quellen

München, im Dezember 2003 - Wer schreibt, kennt das Problem: Man hat eine Kurzgeschichte fertig geschrieben, ist stolz und zufrieden. Am nächsten Tag liest man sie jemandem vor, und als man ihn zu der Geschichte befragt, stellt fest: All die schönen Gefühle, die man glaubte ausgedrückt zu haben, sind dem Zuhörer entgangen. Den fiesen Antagonisten fand er irgendwie ganz sympathisch, und der Held hat sich durch seinen Egoismus verhasst gemacht. Mist, denkt man sich, woran liegt das?

Aus Fehlern lernt man. Eine Idee muss meiner Ansicht nach verschiedene Phasen durchlaufen, bevor wenn etwas Rundes als Ergebnis herauskommt. In diesem Artikel versuche ich zu zeigen, wie ich von der Idee zur Geschichte komme. Dabei möchte ich nicht behaupten, dass das der beste Weg ist - ich gebe nur wieder, was mir zur Zeit daran wichtig scheint. Vielleicht hilft es euch.

1. Grundidee

Zur Ideenfindung setzen manche Autoren Techniken ein wie Clustering oder Schreibspiele, die in vielen Literaturgruppen veranstaltet werden. Ich brauche solche Anregungen - derzeit zumindest - nicht. Ideen habe ich genug. Mir fehlt eher die Zeit, meine Ideen zu Geschichten auszuarbeiten. An mehr als drei Geschichten will ich nicht gleichzeitig arbeiten, sonst gerät alles durcheinander. Schreibspiele haben aus meiner Sicht die Eigenart, dass sie einen zu lyrisch oder surreal gefärbten Texten animieren. Das kommt wohl daher, dass die verschiedenen Anregungen Bilder in meinem Kopf auslösen, und dass ich meinen Text dann eher vom Gefühl als vom Verstand her schreibe.

Die erste Idee zu einer Geschichte hat bei mir ganz unterschiedliche Quellen: Das kann ein Traum sein, eine Geschichte, die mir ein Freund erzählt, ein Erlebnis, eine theoretische Idee oder eine Übung aus einem Schreibbuch. Aber daraus entwickelt sich meistens zuerst ein Plot. Etwa in der Art:

Ein sechsjähriges Kind erfährt aus dem Fernsehen, dass am Wochenende ein Flugtag im Norden der Stadt abgehalten wird. Der Junge versucht die ganze Woche lang, seine Eltern dazu zu bewegen, mit ihm dorthinzufahren. Schließlich lassen sie sich erweichen: Der Vater nimmt ihn mit, die Mutter bleibt zu Hause. Ein Heuschnupfen-Anfall zwingt die beiden zur Umkehr. Überraschend tauchen sie in der Wohnung auf, wo sie die Mutter mit einem fremden Mann ertappen.

Ich denke mir, ich sollte die Geschichte aus der Sicht des Jungen erzählen, in Ich-Perspektive aus zeitlicher Distanz. Tenor: Damals hat der Ich-Erzähler noch nicht verstanden, dass die Situation in der Wohnung auf einen Ehebruch hindeutete.

2. Personen und Erzählstimme

Bis hierhin sind die drei Figuren nur dürre Gestalten. Ich versuche, sie lebendig zu machen und eine Erzählstimme zu finden. In diesem Fall fällt mir die Blechtrommel-Verfilmung ein, und ich erinnere mich an die Stimme des jungen Oskar Mazerath. Diese Stimme ist - zumindest in meiner Erinnerung - etwas arrogant. Dieser Oskar weiß schon als kleines Kind alles besser. Meine Grundidee ändert sich: Das Kind versteht nicht erst im Nachhinein, was in der Wohnung geschehen ist, sondern umgekehrt: Der Vater ist der Naive, der Sohn öffnet ihm die Augen. Aber ist das nicht unrealistisch? Ein sechsjähriger Junge öffnet seinem Vater die Augen? Gut, denke ich mir, aber der Typ erzählt aus großem zeitlichem Abstand. Er deutet also das Geschehen um. Er ist arrogant, deswegen stellt er es so dar, als habe er alles kapiert - in Wirklichkeit war es wohl anders.

3. Prämisse

Ich überlege, was die Prämisse der Geschichte sein könnte. Der Junge hat erlebt, dass sein Vater naiv war, dass er der Betrogene, der Verlierer war. Das hat ihm ein Misstrauen gegen die Frauen eingeimpft. Die Prämisse könnte sein: Das Erlebnis eines Ehebruchs durch die Mutter kann beim Sohn dazu führen, dass er frauenfeindlich wird. Viele Geschichten sind nach einem solchen einfachen "X führt zu Y"-Muster gebaut. (Natürlich hätte dasselbe Erlebnis auch zu einer Abneigung gegen den Vater oder ganz anderen Ergebnissen führen können.) Die Prämisse dient mir beim Schreiben als Kompass. Das ist so etwas wie ein Vorsatz: In dieser Geschichte soll es mir nur um das Verhältnis zu Frauen gehen.

4. Erste Version und erste Überarbeitung

Ich versuche, eine erste Version zu schreiben: Dabei denke ich an die Stimme des Oskar Mazerath, gebe ihm Arroganz. Ich schreibe die ganze Geschichte auf einen Sitz herunter, verwende Bleistift und Papier. Meine Erfahrung ist: Wenn ich die Geschichte in einem Rutsch schreibe, ist sie meistens runder.

Erste Überarbeitung

Ich tippe die Geschichte und mache einen ersten Überarbeitungs-Durchgang. Grobe Schnitzer verschwinden. In diesem Fall waren das Perspektive-Fehler: Ich war von der Perspektive des 36-Jährigen, der die Geschichte erzählt, ab und zu in die des Sechsjährigen gerutscht, der die Geschichte erlebt. Die Konsequenz: Ich hatte zu detailliert die Faszination der Flugzeuge geschildert. Das passte zwar zu dem Kind, aber nicht zu dem arroganten Erzähler, der solche Aspekte aus der zeitlichen Distanz ausblenden sollte.

5. Liegen lassen und weitere Überarbeitungen

Ich drucke die Geschichte aus und lasse sie eine Woche lang liegen. Dann lese ich den Ausdruck, und zwar nicht am Schreibtisch mit Stift in der Hand, sondern so wie mein Publikum sie lesen sollte: Auf der Couch liegend, möglichst wie ein Leser, nicht wie ein Autor. Mir fallen dabei manchmal logische Ungereimtheiten auf und verbessere sie. Anschließend lese ich mir die Geschichte laut vor. An manchen Stellen langweile ich mich. An anderen Stellen ist die Reihenfolge falsch, ich springe zwischen zwei Gedanken hin und her. Ich korrigiere das. Schließlich bin ich - manchmal - zufrieden. Wenn nicht, dann überarbeite ich sie, schreibe eine neue Fassung. Wenn ich schließlich vor lauter Fassungen nicht mehr ein noch aus weiß, lasse ich sie liegen für ein oder zwei Monate. Wenn ich auch dann nicht weiter weiß, lese ich sie manchmal vor oder ich gebe fürs erste auf. Und: Auch wenn mir die Story gefällt, lasse ich sie noch einmal liegen.

Nochmal liegen lassen und dritte Überarbeitung

Das Liegenlassen von Geschichten ist meiner Ansicht nach besonders wichtig. Nur so bekommt man Distanz dazu. Dewegen muss jede Geschichte nochmal etwa einen Monat liegen. Danach lese ich die Geschichte nochmal und überarbeite sie. Bei meiner Ehebruchsgeschichte bin ich zwischendurch - durch meine Beschäftigung mit Perspektive-Fragen - auf die Idee gekommen, dass der Ich-Erzähler durch die große zeitliche Distanz auktoriale Züge bekommt. Das raubt der Geschichte Spannung. Ich gab die zeitliche Distanz auf und beseitigte die auktoriale Vorrede. Das Kind wurde etwas älter, kleverer und verlor viel von seiner Arroganz, damit die Perspektivfigur sympathischer erscheint. Ich schnitt mir Fotos aus einer Boulevardzeitung aus, die zu den Protagonisten passten und machte mir so ein genaueres Bild von den Personen. Damit das Misstrauen des Kindes motiviert war, musste es eine Vorgeschichte geben: Deswegen ist der Vater nun geschieden, der Sohn ein gebranntes Kind, was Frauen anbelangt. Betrogen wird er von seiner Freundin Veronika, die das Kind nicht mag. Mir wird klar, warum ich die Geschichte überhaupt schreibe: Weil mir das Schicksal des Vaters nahegeht, der schon zum zweiten Mal der Naive, Betrogene ist. Soviel aus dem Nähkästchen. Hier soll das nur zeigen, dass einem die Bedeutung einer Geschichte manchmal erst viel später klar wird. Zuweilen dauert es Jahre, bis ich verstehe, was das Thema einer Geschichte mit mir, mit meinen eigenen Gefühlen als Autor zu tun hat. Aber das gibt einem einen Anstoß, die Geschichte nochmal zu überarbeiten.

6. Fremde Hilfe und Überarbeitung

Irgendwann ist es Zeit, die Wirkung der Geschichte auf andere zu testen. Ich bin in einer Schreibgruppe, deswegen habe ich Testleser. Am liebsten schicke ich die Geschichte einem anderen Hobbyautor per Mail, der schreibt mir einen ersten Eindruck oder manchmal auch Detailkritik. Oft komme ich dann zu der Auffassung, dass die Geschichte einen fundamentalen Mangel hat, den ich nicht so einfach beheben kann. Dann bleibt die Geschichte bis auf weiteres liegen, ich mache mit was anderem weiter. Oder ich sehe Licht am Ende des Tunnels und arbeite die Kritik ein. Als nächstes lese ich die Geschichte in der Schreibgruppe vor. Das Feedback kann ich gut brauchen: Es gibt immer noch genug zu ändern.

7. Wegwerfen, liegenlassen oder überarbeiten?

Früher habe ich Geschichten irgendwann auf sich beruhen lassen. Das ist vielleicht manchmal richtig. Aber es ist auch gut, alte zu überarbeiten. Bei mir ist es so, dass ich etwa 70 Geschichten geschrieben habe. Eine stattliche Zahl, aber natürlich ist das meiste davon Mist. Oder sagen wir positiver: überarbeitungswürdig. Da gibt es Geschichten, von denen ich dachte, das sind "Räubergeschichten", vom Thema her schon verfehlt. Eine Geschichte über einen japanischen Kamikazeflieger zum Beispiel. Was hat das mit mir zu tun? Wer interessiert sich für sowas Abseitiges? Dachte ich bis vor kurzem. Jetzt weiß ich, dass auch darin ein interessanter Kern steckt. Den muss man nur wieder herausarbeiten.

8. Täglich schreiben

Wie oft ich schreibe? Ich bin berufstätig, deswegen gibt es da Beschränkungen. Am Wochenende schreibe ich mindestens an einem Tag drei bis vier Stunden - oft auch an beiden Tagen. Dazu finde ich es wichtig, täglich zu schreiben. Das heißt bei mir mindestens eine halbe Stunde nach Feierabend und Abendessen. Damit bleibt man in Schwung, man muss sich nicht am Wochenende neu in die Geschichte reindenken. Schreiben heißt dabei allerdings in den seltensten Fällen tippen, sondern meistens nachdenken über den gerade aktuellen Text.

9. Normseiten, zwei Minuten pro Seite

Meine Geschichten schreibe ich in einem Textverarbeitungsprogramm, und zwar so, dass Normseiten herauskommen: 30 Zeilen à 60 Anschläge. Erstens bleibt dabei genug Rand, um Anmerkungen hinzuschreiben, außerdem ist es das gängige Format. Und ich weiß: Für eine Normseite brauche ich etwa zwei Minuten zum Vorlesen. In Schreibgruppen gibt es meist eine Grenze: Recht viel mehr als 10 bis 15 Minuten kann man seinen Gruppenkollegen kaum zumuten.

10. Analysieren und kritisieren

Neben dem Schreiben ist das Lesen für mich wichtig. Ich lese fast ausschließlich Kurzgeschichten - das ist meine Sparte. Ich übe meine Kritikfähigkeit an Stories anderer Hobbyautoren (bei www.kurzgeschichten.de und in verschiedenen Literaturgruppen). Und ich schreibe Interpretationen von veröffentlichten Geschichten von Könnern. Interpretationen oder Kritiken zu schreiben ist für mich die intensivste Form des Lesens.

11. Andere Theorie-Quellen

Schließlich glaube ich, dass es gut tut, ab und zu Bücher über das Schreiben zu lesen oder wiederzulesen. Es gibt da sicher zwei Dutzend oder mehr. Die mit denen ich arbeite, habe ich hier zusammengestellt.

Empfehlenswert ist der Gratis-Newsletter The Tempest, der monatlich per e-Mail kommt. Registrieren kann man sich unter www.autorenforum.de. Dort gibt es auch die alten Ausgaben.

Natürlich gibt es auch Schreibseminare und Schreibkurse (zum Teil auch im Internet). Aus meiner Sicht sind die Inhalte ähnlich, aber die Bücher sind meistens billiger. Manchmal kriegt man aber Feedback von einem erfahrenen Literaturlehrer. Was einem mehr bringt, muss jeder selber wissen. Und man braucht sich ja nicht für eins von beiden zu entscheiden....

Stefan Leichsenring

Letzte Änderung: Januar 2004

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