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Spannung erzeugen

Fragen aufwerfen und die Antworten zurückhalten: Das ist der Weg zur Spannung. Ich versuche zu zeigen, wie das im Detail gehen könnte. 
Spannung

Spannung: Da denkt man an Gummibänder - oder die Folter [1]

Inhalt:
  1. Wer die Leser abdriften lässt, hat verloren
  2. Der Titel
  3. Der erste Satz
  4. Der Anfang
  5. Der Konflikt
  6. Spannung auf der sprachlichen Ebene
  7. Der Schluss
  8. Links und Literatur

 

1. Wer die Leser abdriften lässt, hat verloren

Warst du schon mal bei einer literarischen Lesung? Dann kennst du wahrscheinlich auch diese Art von Texten, bei denen man "nicht reinkommt". Man fragt sich vielleicht: War ich zu unkonzentriert? Ist das Thema nicht interessant genug für mich? Bei der nachfolgenden Diskussion oder Gesprächen in der Pause stellt sich dann heraus: Die anderen Zuhörer sind genauso abgedriftet.

Dann liegt es wohl auch am Text selbst. Eine geglückte Dramaturgie – also die Spannung – kann das verhindern.

Aber was, wenn mein Thema gar keine Spannung verträgt, sagst du? Wenn es um Liebe geht? Oder den Tod eines geliebten Menschen? Um lyrische Momente? Nun, Spannung heißt: Man weiß nicht, wie die Sache ausgeht, will es aber wissen. In diesem Sinn gehört Spannung nicht nur zu einem Thriller, sondern steht wohl fast jeder Geschichte gut.

Man braucht eine Zitrone, einen Kupfer- und einen Eisennagel. So erzeugt man im Physikunterricht Spannung. Und in der Literatur? David Lodge formuliert das Grundrezept: Fragen aufwerfen und die Antworten hinauszögern [2] (Quellenangaben siehe unten).

2. Der Titel

Ein paar willkürlich herausgegriffene Titel aus dem Internet-Forum www.gruppe-vier-w.de (der neuen Partnerseite von www.leixoletti.de):

Andreas
Der Schulausflug
Beständigkeit
Sturm
60 Minuten bis Weltuntergang
Weihnachten mit Chuck Norris

Welche Geschichte würdest du am ehesten lesen? Andreas? Wenn du nicht zufällig den Autor kennst, wohl eher nicht. Ich würde mich für den Weltuntergang oder Chuck Norris entscheiden. Du siehst: Bereits beim Titel kann man mit der Spannungserzeugung anfangen. Schau mal ins Inhaltsverzeichnis eine Anthologie, oder denk an die endlosen Regale in der Buchhandlung und überlege, was dich am ehesten anspringt. Vielleicht doch eher "Liebe in den Zeiten der Cholera" als "Andreas" – oder Antigone, Oliver Twist, Effi Briest, Stiller & Co. (Nicht immer auf die Kleinen!) [3]

3. Der erste Satz

Wenn der Titel dich neugierig gemacht hat, liest du vielleicht den ersten Absatz der Story. Auch hier muss etwas stehen, was die Aufmerksamkeit fesselt. Nur dann liest man weiter, hört weiter konzentriert zu. Mit anderen Worten: Der Anfang muss eine Frage aufwerfen. Nehmen wir einen fiktiven ersten Satz:

Peter Mayer brach am 3. September 2003 um 10 Uhr gemächlich wie gewohnt von zu Hause auf, um Semmeln zu kaufen.

Hier wird Klartext geredet. Personen, Ort, Zeit und Absicht werden im ersten Satz genannt. Vorteil: Der Leser ist sofort im Bilde, er wird dem Fortgang der Handlung leichter folgen können. Aber wird er es auch wollen? Mich springt in diesem Satz vor allem der Ausdruck "wie gewohnt" an: Damit wird gesagt, dass alles so ist wie jeden Morgen. Wieso sollte ich dann weiterlesen?

Journalisten wurde früher gepredigt, die sechs W's gleich am Anfang zu liefern: Wer, wann, was, wo, wie, warum. Spannung erzeugt man so natürlich nicht, und Journalisten werden in der Zwischenzeit auch nicht mehr so erzogen. Es geht schließlich darum, Fragen aufzuwerfen und sie nicht gleich zu beantworten. Also einfach eines von den W's weglassen [1]? Unser Beispiel wird nicht besser, indem wir das Wort gemächlich (also Wie?) weglassen. Wenn wir schreiben: brach jemand auf..., dann wirkt das vielleicht geheimnisvoll, aber die Einfühlung ist erschwert, die Geschichte wird verrätselt. Vielleicht sollte etwas weniger Alltägliches in dem Satz stehen: Peter Mayer brach am 3. September 2003 um 10 Uhr früh von zuhause auf, um nie wieder zurückzukehren. Schon etwas besser, oder?

Nehmen wir einen anderen Anfang:

"Unsterblich durch Wurst!" rufe ich empört durch die Tram. "Ich mein, schön dass sie Ihnen schmeckt, aber ..."

Würdest du weiterlesen? Ich hoffe doch. (Die Geschichte ist von mir.) Hier wird ein ungewöhnlicher Gedanke verwendet, um Spannung zu erzeugen: Unsterblich wird man vielleicht durch ein Gemälde, ein Gedicht oder zwei, aber durch Wurst? Eine andere Möglichkeit ist eine ungewöhnliche Formulierung.

"Als meine Großmutter die Lise behext, da wollten die Leut sie verbrennen."

Spannend oder nicht? Ich denke schon. Das ist der Anfang eines Heine-Gedichts ("Lied des Gefangenen" aus dem Buch der Lieder / Romanzen). Man sieht daran, dass nicht nur Thriller von Spannung profitieren.

"An diesem Dienstag war der Galgen am Tyburn leer."

Der Entwurf eines Romananfangs von Ralf Gringmuth ("Kinder der Revolution"). Auch kein schlechter erster Satz, wie ich meine. Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels besucht der Protagonist einen Schlachthof, sieht das Elend der Armen im England des 17. Jahrhunderts. Der Galgen taucht im ersten Kapitel nicht mehr auf. Nun, vielleicht geht es später um Hinrichtungen. Ich finde aber, die Frage, die sich der Leser am Anfang stellt, sollte etwas mit dem Thema der Geschichte zu tun haben.

4. Anfang

Zum Anfang einer Geschichte gehört etwas mehr als nur der erste Satz, und mehr als nur eine interessante Wendung. Im ersten Absatz – also in den ersten fünf bis zehn Sätzen, sagen wir mal, sollte man dem Leser schon ein paar Andeutungen machen, worum es geht. D. M. Kaplan sagt, was der Anfang leisten sollte [4]:

Es gibt Beispiele, die davon abweichen, aber in den meisten Fällen ist das Rezept wohl richtig. Denn nur wenn sich der Leser die Szene vorstellen kann, wird er weiterlesen. Wenn er nach dem ersten Absatz nicht weiß, ob die Szene im Freien spielt oder in einem düsteren Verlies, ob der Ich-Erzähler weiblich oder männlich ist, wie viele Personen anwesend sind, ob wir im Mittelalter sind oder in der Neuzeit, dann ist Skepsis angesagt. Alles darf man natürlich auch nicht verraten. Schließlich geht es darum: Fragen aufwerfen und die Antworten hinauszuzögern (Thank you, David Lodge). Ein weiterer Punkt, den man beachten sollte: etwas Außergewöhnliches an den Anfang stellen. Überhaupt scheint mir das Außergewöhnliche das A und O der Literatur zu sein.

Und wieso Konflikt? Was denn für ein Konflikt, fragst du? Du willst eine Liebesgeschichte schreiben? Muss man denn unbedingt eine Geschichte über einen Konflikt schreiben? Mit dieser Frage sind wir schon beim Hauptteil.

5. Der Konflikt

Schriftsteller sind oft introvertierte Menschen, stille Wasser, ein bisschen scheu und weltfremd. Ob dieses Klischee stimmt oder nicht: Bei manchen hab ich den Verdacht, dass sie konfliktscheu sind. Von mir aus, das soll jeder halten wie er will. Aber wer in der Wirklichkeit Konflikte meidet, tut das manchmal auch in den eigenen Geschichten. Und da geht es auch den Leser was an. [5]

Vielleicht klingt es radikal oder vereinfachend, aber ich würde sagen: Keine gute Geschichte ohne Konflikt. Ohne Konflikt plätschert die Geschichte so dahin, die einzelnen Geschehnisse haben keinen richtigen Zusammenhang. Es entsteht keine Spannung. Es kann ein innerer oder ein äußerer Konflikt sein oder beides, aber Konflikt muss sein. (Ich verbiete dir, Geschichten ohne Konflikt zu schreiben. Paragraph eins des Konfliktgesetzes. Großes Tabu! Schwör mir das, bitte. Du brauchst erst gar nicht weiterzulesen, wenn du lyrische Prosa oder Satiren schreibst. Und halt dich ja nicht dran.) [1, 3, 5]

Jesus in der Wüste gegen den Teufel, der Sheriff gegen den Bösewicht, Rambo gegen die Feinde Amerikas, Winnetou gegen den Häuptling der Komantschen: Der Vorteil eines äußeren Konflikts ist, dass er einfach zu verstehen ist. Außerdem bietet er die Chance, die Charaktere in ihrer Verschiedenheit zu zeigen. Es kann sich um eine unausgesprochene Meinungsverschiedenheit handeln, aber auch um einen handfesten Ehekrach mit fliegenden Tellern. Wenn zwei sich streiten, dann zeigt das so manches über deren Einstellung und über ihren Charakter. Eine Geschichte ist wie zwei Hunde, die sich um einen Knochen balgen, hat jemand mal geschrieben. [3] Die Spannung, die man so erzeugt, ist allerdings nicht besonders subtil. Wenn man sich ausschließlich an einem äußeren Konflikt orientiert, bekommt man oft "nur" eine Art Abenteuergeschichte.

Tiefgründiger wird es mit einem inneren Konflikt. Dazu muss es zwei Tendenzen im Protagonisten geben. Das hat auch den Vorteil, dass der Protagonist vielschichtiger wird. Er kann zum Beispiel einerseits kinderlieb und andererseits aggressiv sein, wie der von Michael Douglas gespielte Antiheld von "Falling Down": ein Familienvater, der zum Amokläufer wird, dabei aber nie seine Kinderliebe vergisst. Okay, das ist Hollywood, aber warum nicht? Aus solchen Filmen lernt man Einiges in puncto Dramatik.

Am liebsten mag ich Geschichten, bei denen sich äußerer und innerer Konflikt decken. Wenn der Held zum Beispiel eine Schwäche für den Reichtum hat, dann kann er schwanken: Soll er die Tasche mit dem Geld auffangen oder das Mädchen retten? So bekommt unsere Abenteuergeschichte eine psychologische Dimension und ein bisschen mehr Tiefgang. [5]

Egal ob innen oder außen: Ein Konflikt bringt Dynamik in die Geschichte. Es tut sich was. Es gibt eine Spannung zwischen zwei Personen. Diese Spannung sollte während der ganzen Geschichte aufrecht erhalten werden, bis der Schluss sie löst. Bevor wir dazu kommen, noch ein kleiner Einschub.

6. Spannung auf der sprachlichen Ebene

Auch auf der Ebene der einzelnen Sätze kann man Spannung erzeugen. [1] Wenn die Antagonisten im Extremfall zu Küchenmessern greifen, dann entsteht die Spannung dadurch, dass man nicht weiß, ob einer von den beiden zustechen wird, ob einer stirbt und so weiter. Die Antwort auf diese Fragen kann man durch Einschübe hinauszögern. Lange Einschübe wie die Landschaftsbeschreibungen bei Karl May haben den Nachteil, dass der Leser sie überblättern kann. Bei kurzen Einschüben in den einzelnen Sätzen oder eingestreuten Sätzen geht das nicht:

"George stand in der Mitte der Straße und wartete, dass Baxter endlich zog. Die verdammte Mittagssonne blendete ihn, und eine Fliege umsurrte seinen Kopf. Er schubste einen Stein mit dem Stiefel weg. Bei so einem Duell sollte einem nichts im Weg liegen, dachte er."

Die Einschübe kann man gleichzeitig verwenden, um Gedanken zu schildern oder die Personen zu charakterisieren. George könnte zum Beispiel ein sorgfältiger Mensch sein, vielleicht ein Pedant - oder er ist einfach nur furchtbar nervös. [1]

Spannung auf der Satzebene kann man erzeugen, indem man in einem langen Satz, der viele Einschübe, zahllose Orts- oder Zeitbestimmungen, Personenbeschreibungen und was es dergleichen mehr an überflüssigen Informationen gibt, die den Leser in diesem Moment nicht interessieren, und die vom eigentlichen Geschehen ablenken, - äh, indem man in einem langen Satz das aufschlussgebende Wort an den Schluss stellt [6]. Besseres Beispiel:

Hans lugte vorsichtig um die Ecke und sah im Licht von sechs Fackeln, die im weiten Rund im Waldboden steckten und eine kaum bewachsene Fläche von etwa fünfzehn Metern Durchmesser ausleuchteten, eine seltsame Gestalt.

Hier ist der durchgestrichene Teil der wichtigste! Es ist der "ärgerliche" Teil, der einen auf die Folter spannt. Der Anfang des Satzes hält das aufschlussgebende Satzglied - hier das Akkusativobjekt - zurück. Fragen aufwerfen, die Antworten zurückhalten - immer wieder das gleiche Rezept.

7. Der Schluss

Zum Schluss noch etwas zum Schluss. Schluss bedeutet: Die Geschichte hört nicht einfach auf, sondern schließt. Bei Lesungen ist man manchmal direkt erschrocken, wenn der Lesende plötzlich still ist. Das nenne ich dann eher ein Ende. Nein, der Schluss sollte wohl doch etwas Besonderes sein. D. M. Kaplan sagt, ein guter Schluss muss dreierlei leisten:

Was heißt Lösung des Konflikts? Wenn es in der Geschichte darum ging, dass Renés Mutter ihn durch ihre altmodischen Vorschriften reizt, so dass er überlegt, ob er nicht endlich ausziehen soll, dann sollte er am Ende entweder seine Sachen packen oder eben nicht, oder zumindest muss klar sein, was er tut. Unerwartet sollte der Schluss auch sein, das heißt, wenn sich beim Leser auf den sechs Seiten der Geschichte die Gewissheit verdichtet, dass er ausziehen wird, dann ist es kein befriedigender Schluss, wenn er es auf Seite 6 schließlich tut. Andererseits: Wenn René über sechs Seiten hinweg als schüchterner, ruhiger Mensch dargestellt wird, und am Schluss bricht er plötzlich einen Höllenstreit mit seiner Mutter vom Zaun, dann wirkt das unglaubwürdig. Drittens muss der Schluss nachklingen, das heißt, er sollte noch mal das Thema der Geschichte aufgreifen. Wenn es in der Geschichte um die Selbständigkeit von René ging, dann könnte er zum Beispiel am Schluss einen Flug nach Timbuktu buchen, für eine Person und ohne Rückflug - um mal eine drastische Variante zu wählen.

Beliebte Fehler beim Schluss sind (nach D. M. Kaplan):

Was man sonst noch beim Schluss bedenken sollte: die epische Gerechtigkeit. Man kann es auch englisch sagen, aber da klingt es nach Hollywood: das Happy End. [4] Sollte am Schluss immer der Gute siegen? Und was ist ein offener Schluss, wie er doch für Kurzgeschichten so typisch sein soll? Ist das dann ein Schluss, bei dem der Konflikt nicht gelöst wird? Schwierige Fragen, die überlasse ich lieber dir. Wie gesagt: Fragen aufwerfen...

Stefan Leichsenring

Verwendete Literatur

[1] Arwed Vogel, Spannungserzeugung durch Sprache und Dramaturgie, Kurs im Rahmen des Freien Literaturprojekts, München, 9. Januar bis 13. Februar 2004

[2] David Lodge, Die Kunst des Erzählens, Haffmans Verlag, Zürich, 1992 (Besonders Kapitel 3 über die Spannung)

[3] Fritz Gesing, Kreativ schreiben, Dumont 1994 (Besonders die Kapitel "Geschichten wie das Leben sie schreibt und Hollywood sie vorschreibt" und "Komposition und Handlungsmuster")

[4] David Michael Kaplan, Die Überarbeitung, Verlag Zweitausendeins, Frankfurt, 1. Auflage 2002 (Besonders die Kapitel über den Anfang und den Schluss)

[5] Otto Kruse, Kunst und Technik des Erzählens, Zweitausendeins, 2002 (Besonders Kapitel 6: Das dramatische Konzept)

[6] Ivo Braak/Martin Neubauer, Poetik in Stichworten. Hirt-Verlag, 2001 (besonders Kap. 3, Die Schallform)

Ich danke dem Münchner Poetik-Dozenten Arwed Vogel für zahlreiche Anregungen, die ich in seinem Kurs "Spannungserzeugung durch Sprache und Dramaturgie" bekommen habe, insbesondere zur Spannungserzeugung auf der Satzebene. (Anmeldungsformular zum Kurs)

Letzte Änderung: Juli 2004

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