Autorengruppe Ibis
 
Autorengruppe IBIS
Lesungen und Preise
Texte der Mitglieder
Mitglieder
Impressum
Datenschutzerklärung

Brigitta Scherleitner: Keine Stunde

Auf dem Schild stand: Vorübergehend geschlossen!

Stirnrunzelnd blickte Röder auf den lakonischen Satz und begann, auf und ab zu gehen. Schon nach kurzer Zeit blickte er gewohnheitsmäßig auf das linke Handgelenk, sah aber nur die helle Stelle, die die Uhr auf der gebräunten Haut hinterlassen hatte. Dann stand er eine Zeitlang nur da, wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, betrachtete eingehend seine Schuhe. Er ging ein wenig hin und her, blieb wieder stehen, besah sein Spiegelbild im Schaufenster, rückte den Knoten der einfarbigen Krawatte zurecht, betrachtete eingehend die ausgestellten Uhrenmodelle im Schaufenster. Sie zeigten alle dieselbe Zeit.

Röder gab sich einen Ruck. Er überquerte die Straße, inspizierte die Auslagen der dortigen Geschäfte. Die Apotheke warb mit einer Creme gegen müde Männerhaut und bot neben Badesalzen aus dem Toten Meer ein umfangreiches Kurprogramm gegen Cellulite. Der Bäcker daneben hatte eine neue Vollkorn-Nuss-Mischung im Angebot, der Fotoladen zeigte die neuesten Digitalkameras. Röder blickte immer wieder zur anderen Straßenseite hinüber, versuchte, mit zugekniffenen Augen zu erkennen, ob das Schild noch an der Tür des Uhrengeschäftes hinge. Aber die Scheibe spiegelte zu stark, also überquerte er wieder die Straße, eilte raschen Schrittes zum Laden. Das Schild hing immer noch da. Er schüttelte heftig den Kopf, wandte sich an einen jungen Mann, der auf ihn zukam, und deutete auf die Mitteilung: „Wie lange ist für Sie vorübergehend? Ich warte schon sicher zwanzig Minuten, das ist doch nicht mehr vorübergehend?“ Der Bursche sah ihn verständnislos an, eilte weiter, ohne Wort.

Röder schrie ihm nach: „Ja geh nur vorüber, geh!“

Eine ältere Dame kam mit ihrem Hund vorbei. Er trat auf sie zu, kam aber nicht zu seiner Frage, denn der schwarze Spitz gebärdete sich derart wild, dass eiliger Rückzug geboten war.

Nun verstellte er einer jungen Frau den Weg.

„Wie lange ist vorübergehend?“

Sie gab nicht gleich Antwort, da packte er sie am Arm und zischte, während sein Zeigefinger auf sie einstach: „Wie ... lan... ge?“ Die Frau schrie gellend um Hilfe, Passanten eilten hinzu, hielten den sich heftig wehrenden Röder fest, bis die Polizei kam, die jemand herbeigerufen hatte.

In dem Durcheinander bemerkte niemand den Mann, der das „Vorübergehend geschlossen“-Schild von der Eingangstüre entfernte.


Juni 2011

 
 www.ibis-gruppe.de    (©) Brigitta Scherleitner     Mail an den Webmaster