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Theorie zur Kurzgeschichte

Zu viele Regeln verderben die Literatur. Trotzdem: Was sollte man bei einer Kurzgeschichte beachten?
 
Teil 2: Die Personen
Zum Anfang
 
Menschen als Zentrum Zum Anfang
Die meisten Kurzgeschichten handeln von Menschen. Aber muss das so sein? Versuchen wir ein Gegenbeispiel zu finden.

Sagen wir, ein Killerwal lebt in einem großen Aquarium, ist zahm und gut Freund mit einer jungen Tierpflegerin. Doch eines Tages lässt sie sich von einem Freund vertreten. Der Wal ist lieb und nett, hat sie ihm noch gesagt. Er nähert sich dem Becken, der Wal scheint sanft zu sein, der neue Pfleger steigt ins Wasser, um mit ihm zu spielen, aber plötzlich reagiert er aggressiv und tötet den Neuen. Auch so eine Geschichte wäre vielleicht möglich, aber die meisten Leser interessieren sich mehr für die Psyche von Menschen als für die von Walen.

Und wie steht es um Geschichten, in denen Vulkanausbrüche oder Verkehrsunfälle im Zentrum stehen? Solche Geschehnisse treten unvermutet ein, kommen also als Pointe für eine Kurzgeschichte in Frage. Interessant wird die Geschichte aber wohl nur, wenn diese mehr oder weniger zufälligen Ereignisse in Beziehung zu einem Menschen stehen - einem Vulkanbergsteiger etwa oder einem Hektiker, der einen Verkehrsunfall heraufbeschwört.
 
Wenige Personen, ein einziger Charakterzug Zum Anfang
In den meisten Kurzgeschichten beschränkt sich der Autor auf wenige Personen. Die Personen haben meist nur einen einzigen Charakterzug. Oft sind die Personen namenlos und werden durch Personalpronomen vertreten (er, sie, ich), oder es werden sprechende Namen verwendet, die ebenfalls zur Charakterisierung verwendet werden. Die Gefahr besteht darin, dass die Personen zu austauschbaren, stereotypen Figuren werden.

Anders als in der Novelle, wo ein Geschehnis eintritt, das den Charakter des Helden grundlegend und dauerhaft ändert, verändert sich der Charakter der Hauptpersonen in der Kurzgeschichte meistens nicht, sondern eine Person wird charakterisiert, und ihr Charakterzug führt zu Verwicklungen. Die Geschichte "Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber" von Hemingway markiert schon den Übergang zur Novelle. Denn die Titelgestalt wandelt sich vom Weichei zum Helden.
 
Die Charakterisierung: Show, don't tell Zum Anfang
Wir haben gesagt, bei Kurzgeschichten bestehe die Gefahr, anonyme Helden zu produzieren. Für eine ausführliche Charakterisierung fehlt der Raum. Karikaturisten stehen vor einem ähnlichen Problem. Sie charakterisieren ihre Figuren mit wenigen Strichen. Ein charakteristisches Detail zu Aussehen oder Kleidung des Helden kann erste Hinweise geben.

Und wie steht es mit Gefühlen? Wenn ich den Leser wissen lassen möchte, dass eine Person wütend ist, könnte ich einfach schreiben: "Stefan war wütend." In diesem Satz spricht ein auktorialer, allwissender Erzähler, der in den Kopf der Personen hineingucken kann. Die Gefahr dabei ist, dass es unglaubwürdig wirkt. Dass Dora wütend ist, glaubt der Leser eher, wenn ich ihm eine Szene zeige, aus der er ihren Gemütszustand erkennen kann. Also: "Stefan steckte den Schläger unter den Arm und verließ mit langen Schritten den Tennisplatz." Henry James hat diese Verfahrensweise in einen kurzen Imperativ gefasst: "Show, don't tell".

Bei Gedanken tut man sich mit dem Zeigen allerdings schwer. Sätze wie "Ein unmöglicher Kerl, dachte Karl" finden sich in guten Kurzgeschichten trotzdem nur selten. Meist muss der Leser die Gedanken der Personen erraten. Oft ist das gerade das Reizvolle an einer Geschichte. Wenn man die Gedanken oder Gefühle von Personen unbedingt schildern möchte, dann eignet sich die Ich-Perspektive oder die personale Perspektive besser als die auktoriale.
 
Personaler oder Ich-Erzähler Zum Anfang
Wir haben uns eben schon etwas negativ zur auktorialen Perspektive geäßert. Das wollen wir noch weiter treiben: Diese Erzählweise lenkt vom Geschehen ab, da zu den Personen noch eine weitere kommt - der Erzähler. Sie schafft Distanz, die Illusion, dabei zu sein, wird schwächer, da das Geschehen einem ja nur erzählt wird.

Im Extremfall wird eine Rahmenerzählung vor die eigentliche Handlung geschaltet: Ein Protagonist setzt sich zum Beispiel ans Lagerfeuer und erzählt einem anderen eine Geschichte. Und dann geht es los. Da fragt sich der Leser, wozu das Lagerfeuer gut ist, und warum es nicht einfach gleich los geht. Der Rahmen nimmt die Spannung etwas weg, aber vor allem klingt alles nicht mehr so wie gerade passiert, sondern wie eine Second-Hand-Geschichte.

Die meisten Kurzgeschichten sind aus der Perspektive eines personalen Erzählers oder eines Ich-Erzählers geschrieben. Ein gelungenes Beispiel für die Verwendung eines auktorialen Erzählers ist aber Langgässers "Saisonbeginn" oder Hemingways "Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber".

Nächster Teil: Struktur und Aussage

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