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Gefühle in Kurzgeschichten

Anhand von Beispielen versuchen wir zu klären, wie man in einer Kurzgeschichte die Gefühle der handelnden Personen vermitteln kann.  
Gute Geschichten erzeugen Gefühle beim Leser. Das klappt aber in der Regel nur, wenn sich der Leser mit einer Figur identifiziert, denn dann fühlt der Leser mit diesem Protagonisten. Die Frage ist nur, wie man dem Leser zeigt, welche Gefühle einen Protagonisten gerade umtreiben.

Gefühlsprotokoll

Die einfachste Möglichkeit ist, die Gefühle des Protagonisten einfach zu protokollieren:
Hans stellte sich dicht vor Egon hin. Egon bekam Angst. Er war plötzlich unfähig, ein Wort herauszubringen. Er spürte, wie ihm übel wurde und glaubte, im nächsten Moment kotzen zu müssen.
Hier ist alles ganz klar. Aber nur deshalb, weil der Erzähler spricht - anstelle von Egon. Wir lesen, was uns ein auktorialer Erzähler über Egon mitteilt, nicht das, was Egon selbst fühlt. Denn ein Mensch in einer so emotional aufgewühlten Situation wie Egon reflektiert seine Gefühle nicht, sie werden ihm oft nicht einmal bewusst. Der Nachteil des Gefühlsprotokolls ist also, dass das Erzählen hier sehr indirekt wird - wie immer bei auktorialer Perspektive.

Ein bekanntes Beispiel für überflüssige Kolportage von Gefühlen ist "Das Brot" von Wolfgang Borchert. Die Geschichte spielt in der Nachkriegszeit, als Nahrung knapp ist. Ein Mann steht mitten in der Nacht auf, geht in die Küche und isst heimlich Brot. Seine Frau ertappt ihn, doch er sucht sich eine Ausrede. Und dann heißt es:
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.
Ist das notwendig? Der Leser hätte es sich wohl auch denken können. Vor allem, weil Borchert ansonsten die Peinlichkeit der Situation sehr eindringlich und anschaulich schildert. Der Leser wird in beiden Fällen nicht für voll genommen, der Autor unterschätzt ihn. Das ist etwa so, wie wenn in einer Geschichte stehen würde: "Er ging unter dem Eiffelturm durch. Dieser eiserne Turm ist seit langer Zeit das Wahrzeichen von Paris." Das weiß der Leser auch!

Etwas besser macht es John Updike in seiner Geschichte "Dein Liebhaber hat eben angerufen". Hier beobachtet ein Ehemann zufällig, wie ein Freund seine Frau küsst. Updike schreibt nun nicht: "Richard fühlte sich verraten und verkauft." Er ist diskreter:
...das gab Richard das Gefühl, dass der stumme Akt des Zeugeseins ihn ... dem verborgenen Wirken der Dinge gefährlich nahe gebracht hatte.
Updike hat eine distanzierte Art, die Gefühle Richards zu beschreiben. Er macht deutlich, dass der Verdacht Richards geweckt ist: Der Kuss könnte auch harmlos sein, aber Richard ist misstrauisch geworden. Trotzdem: Updike teilt Gefühle mit - wenn auch in milder Form.

Neutrale Erzählposition

Eine radikale Lösung ist eine neutrale Erzählposition. Dabei verzichtet man als Autor völlig auf die Wiedergabe von Gefühlen. Der Leser muss dann aus dem Geschehen auf die Gefühle der Protagonisten schließen. Wenn es um eine actiongeladene Szene geht, klappt das in der Regel ganz gut: Man braucht dem Leser nicht zu sagen, dass ein Protagonist, der gerade angeschossen wurde, Schmerzen hat.

Bei Alltagsgeschichten wird es schwierig für den Leser. Wenn beispielsweise ein Protagonist bei einem Stadtbummel zufällig einem Bekannten begegnet und sich ruckartig abwendet, kann das die unterschiedlichsten Gründe haben: Abneigung, die Angst, erkannt zu werden, der Wunsch nach Einsamkeit, Eile und so fort. Hier muss man dem Leser einen Hinweis geben - er soll schließlich nicht aufs Raten angewiesen sein.

Gefühle im Film

Aber gibt es denn keine andere Möglichkeit, als Gefühle platt mitzuteilen oder sie ganz auszublenden? Man müsste sie dem Leser irgendwie indirekt vermitteln können. Im Film und auch im Drama erschließt sich der Zuschauer die Gefühle aus der Gestik, der Mimik, den Dialogen und der Sprechweise der Schauspieler. Hier ist Henry James' Forderung "Show, don't tell" am konsequentesten verwirklicht. Es gibt hier ja kaum eine andere Möglichkeit als Gefühle zu zeigen, da es normalerweise niemanden gibt, der von ihnen erzählen könnte.

Nehmen wir als Beispiel eine Eifersuchtsgeschichte, und zwar eine, die aus dem Blickwinkel des Leidenden geschrieben ist. Es kommt dann vor allem auf die Emotionen des leidenden Protagonisten an. Es wird also in der Regel reichen, in einen Kopf hineinzusehen. Dazu eignen sich die Ich-Geschichte oder die personal erzählte Geschichte.

Innerer Monolog und Erlebte Rede

Nehmen wir folgenden, fiktiven Anfang einer Eifersuchtsgeschichte:

Karl betrat das Schlafzimmer und sah sofort, dass seine Frau mit einem fremden Mann im Bett lag. Karl war am Boden zerstört. Jetzt hab ich sie also erwischt, in flagranti, und das nach 20 Jahren Ehe! Wie konnte sie ihm das antun?
Wenn es heißt: "Karl war am Boden zerstört.", dann ist das eine Behauptung des Autors, die richtig sein kann oder auch nicht. Hier wird über Gefühle berichtet im Sinne eines Gefühlsprotokolls. Glaubwürdiger würde es klingen, wenn dem Leser dieser Gefühlszustand gezeigt würde. Zum Beispiel durch Gestik: "Karls Kopf sank ihm bis tief in die Brust. Er versuchte, den Kopf zu heben, aber er konnte nicht."

Dann wird ein Gedankengang als Innerer Monolog wiedergegeben: "Jetzt hab ich sie also erwischt, in flagranti, und das nach 20 Jahren Ehe!" Auch hier hat man den Eindruck, der Autor möchte einem etwas mitteilen - nämlich dass die beiden Eheleute schon lange verheiratet sind. Der Innere Monolog ist so etwas wie ein Selbstgespräch, nur nicht laut. Er steht im Präsens und wird in der Ich-Form geschrieben.

"Wie konnte sie ihm das antun?": Dieser Satz ist Erlebte Rede und gibt ebenfalls einen Gedankengang wieder. Die erlebte Rede steht in derselben Zeitform wie die Handlung - hier also im Imperfekt. Und sie wird in Er-Form geschrieben. Man könnte natürlich fragen, ob es überhaupt nötig ist, Karls Gefühle zu zeigen. Der Leser kann sich wohl vorstellen, wie Karl sich fühlt, nachdem er seine Frau beim Ehebruch ertappt hat. Aber es könnte auch anders sein - vielleicht ist Karl ja froh, sie endlich los zu sein.

Gefühle im Dialog

Wie könnte der Autor die Gefühle dem Leser etwas diskreter, weniger aufdringlich vermitteln? Eine Möglichkeit ist der Dialog. In unserer fiktiven Geschichte könnte Karl seine Gefühle gegenüber seiner Frau aussprechen: "Und das nach 20 Jahren Ehe? Wie kannst du mir das antun?" Das k&oouml;nnte er sagen, nachdem er den Liebhaber aus dem Haus gejagt hat. Das ist schon besser.

Nehmen wir wieder eine bekannte Kurzgeschichte, "Francis Macomber" von Ernest Hemingway: Der Titelheld ist mit seiner Frau auf einer Safari, die von einem gutaussehenden Engländer geführt wird. Macomber wacht mitten in der Nacht auf. Seine Frau liegt nicht neben ihm und kommt erst Stunden später zurück. Als Macomber sie zur Rede stellt, sagt sie, sie wäre frische Luft schöpfen gewesen. Die Reaktion des Ehemanns: "Das ist eine neue Bezeichnung dafür. Was für eine Hure du bist."

Hier erklärt Hemingway, was geschehen ist, ohne den Vorfall selbst zu schildern. Gleichzeitig macht er die Gefühle Macombers deutlich, und dass er nicht gewillt ist, das Verhalten seiner Frau zu tolerieren. Damit deutet sich die Wende Macombers vom Hahnrei zum tapferen Mann an, die das Thema der Geschichte ist.

In Hemingways Geschichte "Die Killer" werden Gefühle weitgehend ausgespart. Nur ganz am Schluss äußert sich der Widerhall des Geschehens in einem Dialogschnipsel:
"Es ist eine verteufelte Sache!"
"Es ist eine scheußliche Sache," sagte Nick.
Sie sagten nichts. George langte nach einem Lappen und wischte die Theke ab.

Gestik und Mimik

Nehmen wir eine etwas weniger offensichtliche Eifersuchtsszene: "Aus seinem Versteck hinter der Säule sah Karl, wie sich Marlene und Dieter unterhielten, zusammen lachten. Sie sahen ihn nicht. Es tat weh."

In diesem Fall ist die Schilderung des Gefühls nötig, denn aus der Unterhaltung zwischen Marlene und Dieter alleine lässt es sich nicht ohne weiteres ableiten. Im Beipiel wird deutlich, dass Karl in Marlene verliebt ist und dass ihn die eigentlich harmlose Szene eifersüchtig macht. Das Gefühl Karls wird sparsam geschildert. Statt "Es tat weh" könnte man aber etwas anschaulicher schreiben: "Karl presste die Arme an seinen Oberkörper und versuchte, die Hände ruhig zu halten." Oder einfach: "Karl biss sich auf die Lippen." Das reicht, um zu zeigen, dass ihm das Geschehen nicht gleichgültig ist, dass er leidet. Gestik und Mimik sind also Möglichkeiten, Gefühle indirekt zu zeigen.

Wortwahl

In einer Kurzgeschichte kann die Gefühlslage manchmal durch die Wortwahl verdeutlicht werden: Schleudern, reißen, pfeffern, hämmern - das tut ein wütender Mensch. Trotten, schlurfen, murmeln, hängen lassen - das spricht für Traurigkeit und Depression.

Handlung

In Raymond Carvers Geschichte "Soviel Wasser, direkt vor der Tür" geht es um eine Frau, die ihren Mann verdächtigt, an einem Lustmord beteiligt gewesen zu sein. Die Geschichte ist aus der Sicht der Frau geschrieben. Die Frau macht ihrem Mann verbal keine Vorwürfe. Stattdessen schreibt Carver den folgenden Dialog.
"Was starrst du mich dauernd an?" sagt er.
"Was ist denn los?" sagt er und legt seine Gabel hin.
"Hab ich gestarrt?" sage ich und schüttle den Kopf.
Das Wesentliche bleibt unausgesprochen. Die stummen Vorwürfe im Blick seiner Frau wirken auf ihn stärker als ein offener Vorwurf. Auch auf den Leser wirkt ein verborgener Konflikt stärker als ein offener. Kurz darauf explodieren die Gefühle der Personen, die Frau handelt stumm:
Ich mache die Augen zu und halte mich an der Spüle fest. Dann fahre ich mit dem Arm darüber, so dass das Geschirr auf den Boden fällt. Er reagiert nicht. Ich weiß, dass er es gehört hat.
Dieser handfeste Ehekrach wirkt auf den Leser viel stärker als lautstarker Dialog und verbale Streitereien.

Carver zeigt die Gefühle der Eheleute. Jetzt können wir Henry James' Forderung so interpretieren: In einer Kurzgeschichte darf zwar gedacht und gefühlt werden, aber nur von schwachen Gefühlen darf berichtet werden. Stake Gefühle werden besser nicht verbal ausgedrückt - weder im Dialog, noch explizit als Gefühl. So bewirkt man die stärkste Einfühlung beim Leser.

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Letzte Änderung: August 2003

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