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Die Perspektive in Kurzgeschichten

Man lernt bei diesem Thema als Autor nie aus: Wir haben uns nochmal die Perspektive vorgenommen und ergründen die Feinheiten - auf ungewöhnliche Weise, nämlich mithilfe eines Farbkreises. 
Inhalt:
  1. Die Grundperspektiven
  2. Distanz zwischen Autor und Erzähler
  3. Ich-Geschichten
  4. Er-Geschichten
  5. Auktoriale Geschichten
  6. Welche Perspektive für welche Geschichte?
  7. Weiterführende Literatur

Die Perspektive ist eines der zentralen Probleme beim Schreiben einer Kurzgeschichte. Und auch wenn fast jeder Autor wohl die drei Grundformen der Perspektive kennt: Man kann immer wieder Neues bei diesem Thema entdecken. Ganz so trivial ist die Sache nämlich nicht. Es lohnt sich, immer mal wieder über das Problem nachzudenken.

Zunächst stelle ich in diesem Artikel die drei Grundperspektiven vor. Ich versuche zu zeigen, wie man sie schreibt und erkennt, und welche Zwischenformen es gibt. (Anmerkung am Rande: Ja, dieser Artikel ist in Ich-Perspektive geschrieben, das hast du gut erkannt.)

 

1. Die Grundperspektiven

Während im Drama und in vielen Filmen die Wirklichkeit sozusagen direkt dargestellt wird, steht in der erzählenden Literatur – und dazu gehören natürlich Kurzgeschichten – immer ein Mittler zwischen Leser und dem Geschehen: der Erzähler. Nach der Art des Erzählers kann man drei Grundformen der Perspektive unterscheiden: Ich-Perspektive, personale Perspektive und auktoriale Perspektive. Bei der Ich-Perspektive erzählt ein Mensch von sich selbst. Bei der personalen Perspektive erleben wir das Geschehen aus der Sicht einer der Personen (Er-Perspektive), wobei der Erzähler nicht als Person vorkommt. Bei der auktorialen Perspektive gibt es einen allwissenden Erzähler. So weit so gut.

Aber es ist komplizierter, als es diese Dreiteilung glauben macht. Erstens ist es gar nicht so einfach, die einzelnen Arten auseinanderzuhalten – weder für den Autor, noch für den Leser. Außerdem gibt es Zwischenformen. Genau betrachtet, gibt es sogar einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Perspektiven mit unendlich vielen Schattierungen. Stanzel [4] stellt die Grundperspektiven deshalb in einem Typenkreis dar:

Typenkreis nach Franz Stanzel

Ich habe den farblosen Typenkreis von Stanzel der Anschaulichkeit halber eingefärbt: Die Grundfarben Rot, Blau und Gelb entsprechen den Grundperspektiven. Dazwischen gibt es unendlich viele Übergänge, z.B. Orange, Grün und Violett. Originell, nicht?

2. Distanz zwischen Autor und Erzähler

Wichtig ist zunächst, dass man zwischen Autor und Erzähler unterscheidet: Der Autor ist der Schreibende selber, der Erzähler dagegen meistens eine erfundene Figur. Die beiden können identisch sein, müssen es aber nicht. Wenn es keinen Unterschied gibt, also bei fehlender Perspektivierung, oder wenn der Abstand zwischen Erzähler und Autor gering ist, bewegt man sich auf oder jenseits der Grenze zwischen Ich-Erzählung und autobiographischem Schreiben, oder zwischen auktorialer Erzählung und Essay. Trennt man Autor und Erzähler, kann die Geschichte an Tiefe gewinnen: Es gibt einerseits das, was wirklich passiert ist und zweitens das, was der Erzähler daraus macht. Die Distanz zwischen Autor und Erzähler ist jedenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn man die Perspektive einer Geschichte betrachtet. Diese Distanz wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus, was aus dem Folgenden klar werden sollte.

Distanz zwischen Perspektivfigur und Protagonist

Die Distanz zwischen Perspektivfigur und Handlung ist ein Aspekt. Die Perspektivfigur kann eine Hauptperson der Handlung sein (der Protagonist), eine Nebenfigur, oder sie kann gar nicht an der Handlung teilnehmen. Der erste Fall (z.B. in Kafkas Prozess) hat den Nachteil, dass sich der Protagonist schwer selbst beschreiben kann: Man kennt ihn nur aus der Innensicht. Manchmal schildert man das Geschehen lieber aus der Sicht eines Freundes (z.B. Thomas Manns Dr. Faustus). Dann kann der Freund über Handlungen, Motive und Gefühle des Protagonisten mutmaßen. Schließlich kann der Erzähler auch ganz außerhalb der Handlung stehen. Er kann durch ein Buch, einen Brief, ein Video oder Ähnliches über das Geschehen informiert worden sein. Mehr oder weniger unbeteiligte Beobachter waren im neunzehnten Jahrhundert große Mode. In der modernen Kurzgeschichte sind sie eher selten, da steht der Erzähler meist mitten im Getümmel.

Distanz zum Erlebten und zur Innensicht

Mit der Entscheidung für eine der drei Grundperspektiven ist noch nicht festgelegt, wie viel uns die Perspektivfigur von dem erzählt, was sie erlebt hat. (Man denke z.B. an das Erzählloch in Kleists Marquise von O.: Der entscheidende Moment wird ausgespart, stattdessen stehen drei Auslassungspunkte...) Außerdem kann die Perspektivfigur ihre Innensicht mehr oder weniger offenlegen. Spricht zum Beispiel das erzählende Ich auch von seinen Gefühlen? Oder verschweigt es diese lieber? Falls es sie verschweigt, kann dies Gründe haben, die in der Psyche des Ich-Protagonisten liegen. Bei Action-Geschichten werden ebenfalls oft die Gedanken und Gefühle der Perspektivfigur verschwiegen. Die Gedanken sind oft für das Geschehen unwichtig, die Gefühle evident – z.B. muss man nicht betonen, dass ein Bauchschuss weh tut, es reicht, wenn sich der Protagonist krümmt.

Zeitliche Distanz: Ich wusste damals noch nicht, dass...

Auch die zeitliche Distanz zwischen Handlung und Erzählung spielt eine Rolle. Der Autor kann den – eigentlich unrealistischen – Eindruck erwecken, beides finde zur gleichen Zeit statt. Diesen Eindruck kann verstärkt werden, indem man das Präsens verwendet: "Plötzlich taucht Thomas auf. Stefan zieht die Pistole, zielt und drückt ab." Oder – anderes Extrem – ein Greis berichtet von seiner Kindheit. In letzterem Fall kann das erzählende Ich die Handlung kommentieren, und man erhält eine Übergangsform zur auktorialen Erzählweise, die allerdings manchmal altklug wirkt: "Vor 50 Jahren war ich wahnsinnig fixiert auf Autos. Ich besaß einen BMW und an jenem Sonntag... " (Hier ergänzt der Leser: "Heute bin ich klüger.")

3. Ich-Geschichten (Rot)

Viele neuere Geschichten – zum Beispiel die Preisträgergeschichten des Allegra-Wettbewerbs oder des Bachmann-Wettbewerbs – sind aus der Ich-Perspektive geschrieben. Warum eigentlich? Was ist das besondere an der Ich-Perspektive?

Besonders glaubwürdig

Die Ich-Perspektive wirkt auf den Leser besonders glaubwürdig. Wenn ich im persönlichen Gespräch einem Freund erzähle: Gestern fuhr ich in die Stadt und kaufte mir neue Schuhe – dann wird er mir in der Regel glauben. Auch wenn ich sage: Ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele, oder: Ich fühle mich elend, wird der Zuhörer mir Glauben schenken. Genauso geht es dem Leser einer Ich-Geschichte. Wenn man eine Ich-Geschichte anderen vorliest, passiert es deswegen manchmal, dass man gefragt wird: Hast du das wirklich erlebt oder ist das erfunden? Diese Glaubwürdigkeit zieht den Leser schnell in ihren Bann.

Identifizierung des Autors mit seinem Helden

Zu den Vorteilen der Ich-Perspektive zählt auch, dass man sich als Autor unwillkürlich stärker mit seinem Helden identifiziert. Man läuft kaum Gefahr, versehentlich die Perspektive zu verändern. Doch liegt in der Identifizierung des Autos mit seinem Helden auch ein Problem: Man legt mehr von sich selber – auch von den eigenen Gefühlen – in den Protagonisten als bei der Er-Perspektive. Manchmal wählt man unwillkürlich die Ich-Perspektive, weil man von sich erzählen will. So kann die Ich-Perspektive dazu führen, dass man die Distanz verliert, dass man ins autobiografische Schreiben abgleitet, dass man jammert. Selbst wenn das nicht der Fall ist, kann die Ich-Perspektive beim Leser zu dem Missverständnis führen, der Autor behandle sein eigenes Leben (Bewältigungsliteratur) – vor allem, wenn Autor und Erzählfigur sich ähneln. Besonders stark wird dieser Eindruck, wenn man als Autor seine Geschichte bei einer Lesung vorliest. Umgekehrt kann es beim Vorlesen irritierend wirken, wenn z.B. das Ich in der Geschichte weiblich, der Vorlesende aber männlich ist.

Probleme bei der Ich-Geschichte

Mit der Ich-Erzählung kann man sich als Autor noch weitere Probleme einhandeln. So ist es schwer, das Ich selbst zu schildern. Das geht so weit, dass in manchen Ich-Geschichten unklar ist, ob der Protagonist männlich oder weiblich ist. Aber man kann sich behelfen, um dem Leser eine Vorstellung vom Aussehen des Protagonisten zu geben. Man kann:

Unzuverlässiger Ich-Erzähler

Eine ganz andere Art, mit der besonderen Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers unzugehen, ist die Technik des unzuverlässigen Erzählers. Hier macht sich das Erzähler-Ich unglaubwürdig. Wenn ich einem Freund sage: Gestern sprang ich aus dem dritten Stock und flog nach Augsburg, dann weiß er, was er von meinem Geisteszustand zu halten hat. Genauso geht es einem Leser. Ich erzähle dann mehr von mir und meinen Phantasien, meinem Geisteszustand, als von der Wirklichkeit. Auf Kurzgeschichten übertragen, ist diese Technik des unzuverlässigen Erzählers eine wichtige Möglichkeit für eine Ich-Geschichte. Sie gibt dem Autor die Möglichkeit, eine Person genauer zu schildern – den Ich-Erzähler.

Auktorialer Ich-Erzähler (Violett)

Eine dritte Art des Ich-Erzählers ist ein Ich-Erzähler mit auktorialen Zügen. Diese Geschichtenart (in unserem Typenkreis violett) ergibt sich, wenn der Ich-Erzähler die Geschichte aus einem zeitlichen Abstand heraus erzählt. Dann ergeben sich solche Sätze: "Ich wusste damals noch nicht, dass..." Auf diese Weise kann der Autor Informationen einfließen lassen, die das Ich zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht hatte. Er kann reflektieren und räsonnieren ("Damals glaubte ich... Heute sehe ich das anders..."). Je nach Gewichtung tritt dann das erlebende Ich mehr oder weniger in den Hintergrund, das erzählende Ich und seine Sicht in den Vordergrund. Damit wird auch das Erzählen stärker thematisiert, die Handlung wird unwichtiger. Dass diese Erzählweise altklug wirken kann, wurde schon erwähnt. Es bietet aber auch die Chance auf eine besondere Art der Spannung durch Vorausdeutung: "Ich hätte nicht an dem Kabel herumgefummelt, wenn ich da schon gewusst hätte, wer es gelegt hatte." Oder durch die Art, wie sich das Ich vorstellt: "Zuerst gehört es sich dass ich mich vorstelle: Mein wirklicher Name tut eigentlich nichts zur Sache, aber mein Deckname ist Aliosha."

Übergang zur Er-Geschichte (Orange)

Außer der auktorialen Ich-Geschichte gibt es auch einen Übergang zwischen Ich-Geschichte und personaler Geschichte (im Typenkreis orange). Das mag auf den ersten Blick verwundern: Man sollte doch zwischen Ich- und Er-Geschichte unterscheiden können. Aber der innere Monolog löst diesen Unterschied auf. Ein Beispiel: "Stefan verließ das Haus. Es war schönes Wetter, der Himmel war makellos blau. Blau wie das Meer um Sizilien, damals im Urlaub. So schön blau war auch das Buch. Wo hab ich es nur liegen gelassen?" Hier sind die Gedanken in erster Person (Innerer Monolog), die Erzählung aber in dritter Person geschrieben. Eine weitere Möglichkeit sind Gedankenzitate, bei denen man die Anführungsstriche weglässt: "Stefan verlässt das Haus. Schönes Wetter heute, denkt er, aber wo hab ich mein Buch liegen gelassen?"

4. Er-Geschichten (Gelb)

Personal erzählte Geschichten sind in Er-Perspektive geschrieben. Eigentlich ist diese Perspektive ziemlich paradox: Es wird von einem dritten berichtet, was im wirklichen Leben nur von außen möglich ist. Bei personaler Perspektive werden aber auch Gefühle und Gedanken des Protagonisten erzählt, was einer Sichtweise von innen entspricht.

Geschichten über Dritte

Aus dem Alltag kennt jeder die folgende Erzählsituation: Ein Freund berichtet etwas von einem Dritten. Wie bei der Ich-Geschichte wird man dem Erzähler in der Regel glauben, es sei denn, er macht sich unglaubwürdig. Allerdings wirkt die Erzählung weniger glaubwürdig und weniger natürlich. Wenn mir ein Bekannter erzählt, Kanzler Schröder hätte Probleme beim Wasserlassen, dann werde ich ihn fragen, woher er das weiß. Denn der Bekannte müsste immer hinter Schröder hergegangen sein, um alles zu wissen, was dieser erlebt hat. Sogar aufs stille Örtchen müsste er ihm gefolgt sein – wenig wahrscheinlich.

Gedanken und Gefühle

Noch extremer ist es, wenn mir der Bekannte sagt, Kanzler Schröder hätte vor der letzten Pressekonferenz überlegt, wie er seine Politik am besten verständlich machen könnte. Gefühle und Gedanken des Helden zu schildern, wirft hier ein Glaubwürdigkeitsproblem auf. Wenn diese Perspektive dennoch funktioniert, so wohl deshalb, weil wir sie aus Romanen und Filmen gewohnt sind.

Trivial oder normal?

Die personale Perspektive trifft man fast immer an, wenn man einen Unterhaltungsroman aufschlägt. Und das nicht ohne Grund, denn hier ist man am nähesten am Geschehen, man sieht scheinbar direkt die Action – wie in den meisten Hollywood-Filmen. Anders als bei Ich-Erzühlung und auktorialer Erzählung gibt es hier keinen persönlichen Erzähler. Stattdessen wird die Illusion erzeugt, die Geschichte würde sich sozusagen selbst erzählen. Dennoch wird aus der Sicht von jemandem erzählt, aus der Sicht einer Perspektivfigur. Diese hat die Funktion eines Reflektors. Obwohl dem Leser eine unmittelbare, erzählerlose Darstellung suggeriert wird, gibt es den Erzählvorgang, und es gibt eine Brechung durch sein Bewusstsein. Diese Erzählart ist also ebenso wenig trivial wie die anderen Perspektiven.

Zwischen personal und auktorial (Grün)

Manchmal ist es gar nicht so leicht, als Leser zu entscheiden, ob personal oder auktorial erzählt wird. Ein Beispiel: "Berlin lag im Juli unter einer dichten Smogglocke. (...) Die Zeitungen erschreckten ihre Leser mit hohen Ozonwerten, die Grünen forderten totales Fahrverbot für alle Autos, und die Regierung sah zu und beschloss abzuwarten. Helga vermied es, aus dem Haus zu gehen. Gab es wohl Gasmasken, die so klein waren, dass sie Kindern passten?..." [2] Am Schluss der Passage sind wir bei einer personalen Perspektive – erkennbar an der erlebten Rede. Doch der Anfang? Sind die ersten beiden Sätze nun von Helga gedacht oder kommen sie vom Autor? Das hängt davon ab, wie stark Helga politisch interessiert ist. Vielleicht hat der Autor auch eine auktoriale Einleitung gewählt, und kommt dann zu Helga? Man weiß es nicht. Das muss kein Nachteil sein, im Gegenteil: Man kann daraus ein Spannungsmoment machen.

Auktoriale Einleitungen

Welche Perspektive nun wirklich vorliegt, ist auch nicht wichtig. Hauptsache, der Leser fühlt sich nicht verunsichert. Man kann eine Szene auktorial zu beginnen, um ein paar Informationen weiterzugeben, und dann zur personalen Form überzugehen [2]. Im Grunde balanciert man bei der personalen Perspektive oft auf einem Grad zum auktorialen Erzählen – ebenso wie bei der Ich-Erzählung.

Bandbreite zwischen subjektiv und objektiv

Tatsache ist, dass es gerade bei der personalen Perspektive eine Bandbreite gibt, die von subjektiv bis objektiv reicht. "Soapy setzte seine vier Plastiktüten auf der Parkbank ab und setzte sich seufzend. Dann sah er zu dem beleuchteten Appartement auf der anderen Straßenseite hinüber, zu jener anderen Rasse von Menschen, die noch Hoffnung hatten." [3] An diesem Beispiel kann man bewundern, wie man die Balance hält zwischen subjektiv und objektiv. "Zu jener anderen Rasse von Menschen, die noch Hoffnung hatten" – das sind Gedanken von Soapy, aber es klingt objektiv.

Gefahr bei Gefühlen

Das direkte Benennen von Gefühlen (z.B. "Sie war wütend.") führt in die auktoriale Erzählform hinein – da spricht jemand über die Figur. Der Leser kann diese Behauptung glauben oder auch nicht. Im Alltag entnehmen wir die Gefühle unserer Mitmenschen ihren Verhaltensweisen (Sie schleuderte ihren Tennisschläger auf den Boden und rannte davon), ihrer Mimik (Sie fletschte die Zähne) und dem, was sie sagen ("Verdammt nochmal..."). Wenn man dem Leser diese Beobachtungen in einer Geschichte ebenso ermöglicht, macht man die Gefühle glaubwürdiger, als wenn man nur schreibt: Sie war wütend. Oder, um es kurz zu machen: Show don't tell.

Perspektivwechsel

Manchmal geschehen einem als Autor bei personaler Perspektive Schnitzer: Man rutscht unbewusst ins auktoriale Erzählen hinein. Beispiel: "Und nun folgte etwas, was sich für immer in Stefans Erinnerung festsetzen sollte." In einer Geschichte, in der sonst aus der Perspektive Stefans erzählt wird, wirkt das deplatziert: Hier wird auf einmal erzählt, als stünde die Zukunft schon fest. Oder: "Ob er die Pistole ziehen sollte, fragte er sich, und seine Augen blitzen kurz auf." Solche Stellen finden sich in Unterhaltungsromanen oft. Die meisten Leser achten ja bei Action-Romanen vor allem auf die Handlung, und fühlen sich nicht gestört durch solche Zitterschwenks in der Kameraführung [1]. Auf geübte Leser, die Hochliteratur bevorzugen, kann das wie Schlamperei des Autors wirken.

Wirklich irritierend wirkt ein vollständiger Wechsel der Perspektive. Wenn etwa der erste Teil einer Kriminalgeschichte aus der Sicht des Täters der zweite aus der Sicht des Opfers erzählt wird. Wenn man hier den Wechsel nicht deutlich signalisiert, steigt der Leser aus. Doch es gibt Ausnahmen. Wie man den Perspektivwechsel als Kunstgriff verwendet, ohne dass es stört, zeigt zum Beispiel Updike in der Story Dein Liebhaber hat eben angerufen. Darin klingelt das Telefon, aber keiner geht dran. Eigentlich würde es ein Rätsel bleiben, wer da anruft, aber der letzte Satz enthält einen Perspektivwechsel zum auktorialen Erzählen, was ermöglicht, die objektive Wahrheit darzustellen: "Dann legte der Liebhaber auf.".

5. Auktoriale Geschichten (Blau)

Die auktoriale Perspektive war in den Romanen des 19. Jahrhunderts der Normalfall – neben Ich-Romanen wie David Copperfield. Beiden Formen gemeinsam ist, dass das Erzählen als solches deutlich wird; es gibt einen persönlichen Erzähler. Thomas Manns Romane, z.B. der Zauberberg sind oft auktorial geschrieben. Dem späten Thomas Mann wurde diese auktoriale, grandseigneurhafte Erzählweise wohl selbst suspekt. Jedenfalls verfiel er am Ende immer mehr auf die Parodie [1]. Thomas Mann ist sicher kein schlechter Autor, aber wer heute so auktorial schreibt wie Thomas Mann, wirkt leicht altmodisch. Außerdem erschwert es diese Erzählweise dem Leser, sich auf eine Figur zu konzentrieren, da oft die Gedanken von mehreren erzählt werden. Wenn das Geschehen von außen geschildert wird, unterbindet das auch die Identifikation mit einer Figur.

Dem Wortsinn folgend – auctor ist das lateinische Wort für Autor – werden besonders bei auktorialer Perspektive leicht Erzähler und Autor verwechselt. So kann er zum Beispiel – wie ein Ich-Erzähler – das Geschehen kommentieren, wobei seine Weltanschauung nicht mit der des Autors identisch sein muss. Bei solchen Kommentaren ist aber zu bedenken, dass die Aufmerksamkeit des Lesers vom Geschehen weg auf den Erzählvorgang gelenkt wird. Man ist dann weiter weg vom Drama und vom Hollywood-Film, und weiter weg von der Unterhaltungsliteratur, in der es ja meist um das Geschehen geht. Eine Brechung durch den Erzähler kann eine Bereicherung sein, auch wenn es die Geschichte "schwieriger" macht. Außerdem bedeutet die Einfühlrung eines auktorialen Erzählers die Schwierigkeit mit sich, dass man eine Figur mehr im Spiel hat, also auch eine Figur mehr charakterisieren muss, was Platz und Mühe kostet.

Die meisten Creative-Writing-Bücher wollen aus all diesen Gründen die auktoriale Perspektive "verbieten", und viele Literaturwissenschaftler gehen davon aus, dass sie bei Kurzgeschichten die Ausnahme ist. Dennoch gibt es viele Geschichten aus dieser Perspektive und noch mehr Geschichten, in denen auktoriale Elemente vorhanden sind. Francis Macomber von Hemingway ist nur ein Beispiel. Dort werden an einer Stelle sogar die Gefühle eines angeschossenenen Löwens berichtet.

Eingeschränkte auktoriale Perspektive

Wegen der Gefahr, zu pathetisch oder zu larmoyant zu schreiben, ist auch die Möglichkeit einer eingeschränkten auktorialen Perspektive interessant – wie etwa in R. Carvers Geschichte "Zeichen" oder Hemingways "Die Killer". Dabei sieht man die Akteure von außen, so wie ein Kameramann sie vielleicht filmen würde, man kennt aber ihre Gedanken nicht.

6. Welche Perspektive für welche Geschichte?

Folgende Daumenregeln empfehlen sich für die Perspektive (in Anlehnung an Gesing [1]):

Ich-Perspektive
Personal
Eingeschränkt auktorial
Auktorial

7. Weiterführende Literatur

Zitierte Literatur

[1] Fritz Gesing, Kreativ Schreiben, Dumont, 1. Auflage, 1994

[2] Otto Kruse, Kunst und Technik des Erzählens, Zweitausendeins, 2. Auflage, 2002

[3] Sol Stein, Über das Schreiben, Zweitausendeins, 6. Auflage, 2000, Kap. 13

[4] Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Uni-Taschenbücher, Verlag Vandenhoek & Ruprecht, 1979

Die Bücher von Gesing, Kruse und Stein sind für Autoren gedacht; das Kapitel Perspektive kommt relativ kurz weg. Stanzel schreibt als Literaturwissenschaftler gleich 300 Seiten über die Perspektive. Das erschlägt einen Autor leicht. Trotzdem ist das Buch eine Empfehlung wert – zum Querlesen für die, die sich von Fachchinesisch nicht abschrecken lassen.

Letzte Änderung: Februar 2004

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